Kinsey Millhone 11 - Frau in der Nacht
sie war eindeutig deprimiert. Hector hatte frischen Kaffee gemacht, den er aus einer Thermoskanne anbot, die neben einer Pappschachtel und einem ledernen Fotoalbum auf dem Arbeitspult stand. Ich ließ mir von ihm eine Tasse einschenken und dachte, daß mir kaum schlimmer zumute sein könnte. Er schwang sich auf seinen Hocker, und ich sah ihm dabei zu, wie er die Jazznummer ausblendete, die gerade lief. Er sprach aus dem Stegreif einen Kommentar und täuschte mit Hilfe des Texts in der CD-Hülle souveräne Kenntnisse vor. Seine Stimme war tief und melodiös. Er legte eine Kassette ein, steuerte sie aus und wandte sich zu mir. »Versuchen wir’s mal mit den Knochen«, sagte er. »Beauty kann eine Aufheiterung vertragen, das arme Mädchen.«
»Ich bin ganz bedrückt«, sagte ich. »Ich habe diese Jeans gestern getragen, als ich Lornas Akten durchgegangen bin.«
Ich wickelte das Päckchen auf und kauerte mich neben Beauty. Hector leitete mich an. Endlich lenkte sie ein und erlaubte mir, ihren dicht bepelzten Kopf zu streicheln. Sie legte sich einen der Knochen zwischen die Pfoten und leckte ihn sorgfältig ab, bevor sie sich mit den Zähnen über ihn hermachte. Sie schien keine Einwände dagegen zu haben, daß ich wieder aufstand und mich neben Hector auf den zweiten Hocker setzte. Hector ging unterdessen einen Stapel alter Schwarzweißfotografien mit gezackten, weißen Rändern durch. Er hatte eine Schachtel Fotoecken neben sich stehen und klebte ausgewählte Fotos in ein Album, das bereits von Bildern strotzte.
»Was sind das für Fotos?«
»Mein Dad hat bald Geburtstag, und ich dachte, das könnte ihm gefallen. Die meisten stammen aus dem Zweiten Weltkrieg.«
Er reichte mir einen Schnappschuß von einem Mann in einer Hose mit Bügelfalte und einem weißen Sporthemd, der vor einem Mikrophon stand. »Damals war er zweiundvierzig. Er wollte sich freiwillig melden, aber Uncle Sam hat ihn nicht genommen. Zu alt, schlechte Füße, zerfetztes Trommelfell. Er hat bereits als Ansager beim Radiosender WCPO in Cincinnati gearbeitet, und man hat ihm gesagt, daß sie ihn dort für den Kriegseinsatz viel nötiger brauchten, um die Moral in der Heimat aufrechtzuerhalten. Er hat mich oft mitgenommen. Vermutlich bin ich so auf den Geschmack gekommen.« Er legte das Album beiseite. »Lassen Sie mal sehen, was Sie haben.«
Ich zog die Kassette aus der Tasche und gab sie ihm. »Jemand hat ein bißchen gelauscht. Ich möchte lieber nicht sagen, wer.«
Er wog die Kassette in seiner Hand. »Damit kann ich wahrscheinlich nicht viel anfangen. Ich hatte gehofft, Sie sprächen von einer Acht- oder Mehrspuraufzeichnung. Wissen Sie, wie das funktioniert?«
»Überhaupt nicht.«
»Das ist Mylar-Band. Auf der einen Seite ist es mit einem eisenoxidhaltigen Bindemittel beschichtet. Das Signal passiert eine Spule in einem Tonkopf, und dadurch entsteht zwischen den Magnetpolen ein Magnetfeld. Die Eisenpartikel werden in sogenannten Bereichen magnetisiert. Aber ich will Sie nicht zu Tode langweilen«, sagte er. »Der Punkt ist jedenfalls, daß man mit professionellen Aufzeichnungsgeräten wesentlich höhere Klangtreue erzielt als mit diesen kleinen Kassetten. Was war es denn, irgendein kleines Dings, das mit Batterien betrieben wird?«
»Genau. Man hört jede Menge Nebengeräusche, Gemurmel und Rauschen. Man versteht nicht einmal die Hälfte.«
»Erstaunt mich nicht. Was haben Sie für die Wiedergabe verwendet — das gleiche?«
»Wahrscheinlich eine Entsprechung«, sagte ich. »Dann können Sie mir also nicht helfen.«
»Tja, ich kann es zu Hause auf meinem Gerät abspielen und sehen, ob Ihnen das etwas nutzt. Wenn die Laute von vornherein überhaupt nicht aufgezeichnet worden sind, gibt es auch keine Möglichkeit, sie bei der Wiedergabe herauszuholen, aber ich habe gute Boxen und könnte vermutlich einige der Frequenzen herausfiltern und mit den Bässen und Höhen herumspielen und hoffen, daß es hilft.«
Ich holte die Notizen heraus, die ich mir gemacht hatte. »Hier steht, was ich bisher verstanden habe. Alle Stellen, die ich nicht verstanden habe, habe ich frei gelassen und mit einem Fragezeichen markiert.«
»Können Sie mir das Band dalassen? Ich kann mich gleich daran versuchen, wenn ich nach Hause komme und Sie morgen irgendwann anrufen.«
»Ich weiß nicht recht. Ich habe geschworen, es unter Einsatz meines Lebens zu verteidigen. Es wäre mir peinlich, wenn ich zugeben müßte, daß ich es Ihnen überlassen habe.«
»Dann
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