Kinsey Millhone 11 - Frau in der Nacht
Schnellstraße war ein Unfall mit sechs Autos passiert, und sämtliche Untersuchungsräume beherbergten Verletzte und Sterbende. Bei jedem Behandlungszimmer konnte ich auf den zugezogenen Vorhängen ein Schattenspiel medizinischer Vorgänge mit Instrumentenwagen, Sauerstoffgeräten, herabhängenden Beuteln mit Blut oder Glukose und Röntgengeräten beobachten. Hin und wieder wurde das gleichmäßige Geräusch der Aktivitäten von den markerschütternden Schreien des Patienten auf der Liege durchbrochen. Auf einer fahrbaren Trage lag, unversorgt, ein Opfer, das sich wand wie von Flammen umzüngelt und jammerte: »Gnade... habt Gnade.« Ein Sanitäter kam vorbei und fuhr den Mann in einen soeben erst frei gewordenen Untersuchungsraum.
Aus allen Abteilungen des St. Terry’s hatte man Ärzte, Schwestern und Pfleger herbeizitiert. Ich sah ihnen zu, wie sie perfekt aufeinander abgestimmt arbeiteten, jeder Eingriff erfolgte rasch und präzise. Was die Ärzteserien im Fernsehen geflissentlich beiseite lassen, sind die Schmerzen und der Schleim, die versagenden Körperfunktionen, Nadeln, die sich durch Fleisch bohren, das Zittern und die leisen Hilferufe. Wer möchte schon dasitzen und sich das wirkliche Leben ansehen? Wir wollen die ganze Dramatik des Krankenhauses, aber ohne die darunterhegende Angst.
Die Gesichter der Angehörigen, die man von dem Unfall verständigt hatte und die nun im Warteraum saßen, waren grau und abgezehrt. Sie sprachen in gedämpftem Ton, und die einzelnen Familien drängten sich in kleinen Grüppchen zusammen, gebeugt vom Schrecken. Zwei Frauen klammerten sich aneinander und weinten hemmungslos. Auf der anderen Seite der Glastüren, am einen Ende des Parkplatzes, hatten sich die Nikotinsüchtigen in einer Wolke Zigarettenrauch versammelt. Ich hatte Serena Bonney kurz nachdem Danielle eingeliefert worden war entdeckt, doch mittlerweile hatte der Tumult sie verschluckt.
Als ich Danielles Haustür aufgestoßen hatte, lag sie nackt auf dem Boden, und ihr Gesicht sah so rosa und matschig aus wie eine Wassermelone ohne Kerne. Blut spritzte aus einer ausgefransten Wunde am Kopf, und sie bewegte ziellos ihre Gliedmaßen, als wollte sie ihren eigenen inneren Verletzungen davonkriechen. Ich verdrängte meine Gefühle und tat, was ich konnte, um die Blutung zu stillen, während ich mir das Telefon von ihrem Nachttisch schnappte. Die Notrufzentrale hatte eine Polizeistreife und einen Rettungswagen alarmiert, die beide binnen Minuten kamen. Zwei Sanitäter hatten sich an die Arbeit gemacht und soviel Erste Hilfe geleistet, wie sie konnten.
Die Prellungen auf ihrem Körper bildeten ein Muster aus dunklen, sich überschneidenden Linien, die vermuten ließen, daß jemand mit einem stumpfen Gegenstand auf sie eingeschlagen hatte. Es stellte sich heraus, daß die Waffe ein in Lumpen gewickeltes Stück Bleirohr war, das ihr Angreifer auf seinem Rückzug in die Büsche geworfen hatte. Ein Polizist hatte es bei seiner Ankunft entdeckt und dagelassen, damit es die Spurensicherung, die kurz danach eintraf, einpacken konnte. Nachdem der Polizist den Tatort abgesperrt hatte, gingen wir auf die kleine Veranda hinaus, wo wir in einem dämmrigen Lichtkegel standen, während er mich verhörte und sich Notizen machte.
Zu diesem Zeitpunkt war die Gasse bereits von Fahrzeugen verstopft. Blaulichter flackerten durch die Dunkelheit, und der Polizeifunk steuerte sein ausdrucksloses Staccatogemurmel bei, nur hin und wieder unterbrochen von rasselnden atmosphärischen Störungen. Ein Grüppchen Nachbarn hatte sich seitlich im Garten versammelt, ein buntgeschecktes Durcheinander von Jogginghosen ohne Socken, Pantoffeln, Mänteln und über Nachthemden gestülpten Skianoraks. Der Polizist begann die Menge zu befragen, um festzustellen, ob es außer mir weitere Zeugen gab.
Ein schnittiger, leuchtendroter Mazda kam mit quietschenden Reifen in die Gasse gefahren. Cheney Phillips stieg aus und schlenderte den Weg hinauf. Er nickte mir zu und wechselte dann ein paar Worte mit dem uniformierten Polizisten, dem er seine Dienstmarke zeigte. Anschließend betrat er Danielles Häuschen. Ich sah, wie er auf der Türschwelle stehenblieb und einen Schritt zurück machte. Von der geöffneten Tür aus musterte er langsam die blutige Szenerie, als machte er ein Foto nach dem anderen. Ich führte mir den Anblick so vor Augen, wie ich ihn gesehen hatte: die zerknüllte Bettwäsche und die verschobenen oder umgekippten Möbel. In der Zwischenzeit
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