Kinsey Millhone 11 - Frau in der Nacht
und sich einbilden, es sei eine Art Opferbecken gewesen.
Er fragte: »Dürfen Sie sagen, für wen Sie arbeiten? Oder ist das geheim?«
»Für Lornas Eltern«, sagte ich. »Manchmal ziehe ich es vor, diese Information für mich zu behalten. Aber in diesem Fall liegt es auf der Hand. Kein Riesengeheimnis. In der vergangenen Nacht habe ich schon mit Serena über die Sache gesprochen.«
»Mit meiner Ex-Frau in spe? Also, das ist mal ein interessanter Ausgangspunkt. Warum mit ihr? Weil sie die Leiche gefunden hat?«
»Genau. Ich konnte nicht schlafen. Ich wußte, daß sie in der Nachtschicht im St. Terrys arbeitet, und deshalb habe ich mir gedacht, ich könnte ebensogut zuerst mit ihr sprechen. Wenn ich angenommen hätte, daß Sie wach seien, hätte ich auch bei Ihnen angeklopft.«
»Ganz schön unternehmungslustig«, bemerkte er.
»Ich bekomme fünfzig Dollar die Stunde dafür. Erscheint mir sinnvoll, so oft wie möglich tätig zu werden.«
»Wie geht es bislang voran?«
»Momentan bin ich noch dabei, Informationen zu sammeln und versuche, ein Gefühl dafür zu bekommen, womit ich es eigentlich zu tun habe. Soweit ich weiß, hat Lorna für Sie gearbeitet. Wie lange — drei Jahre?«
»In etwa. Ursprünglich war es ein Vollzeitjob, aber nach den Budgetkürzungen haben wir beschlossen zu versuchen, mit zwanzig Stunden in der Woche hinzukommen. Bislang hat das auch gut geklappt, es war zwar nicht ideal, aber machbar. Lorna hat drüben im City College Kurse besucht, und die Teilzeitarbeit kam ihrem Stundenplan sehr entgegen.«
Mittlerweile waren wir durch eine unterirdische Ebene zum Ausgangspunkt zurückgekommen. Das gesamte Untergeschoß war von wuchtigen Rohren durchzogen. Wir stiegen eine lange Treppe hinauf und standen plötzlich in einem hellerleuchteten Korridor, nicht weit von seinem Büro. Er geleitete mich hinein und wies auf einen Stuhl. »Setzen Sie sich.«
»Sie haben Zeit?«
»Sehen wir einfach, wie weit wir kommen, und was wir nicht schaffen, können wir an einem anderen Tag besprechen.« Er beugte sich vor und drückte auf einen Knopf an seiner Sprechanlage. »Melinda, rufen Sie mich an, wenn die Inspektoren kommen.«
Ich hörte ein dumpfes: »Ja, Sir.«
»Entschuldigen Sie die Unterbrechung. Fragen Sie nur«, sagte er.
»Kein Problem. Hat Lorna ihre Arbeit gut gemacht?«
»Ich hatte nichts auszusetzen. Die Arbeit an sich war nicht so anspruchsvoll. Sie war im Grunde Empfangsdame.«
»Wußten Sie viel über ihr Privatleben?«
»Ja und nein. In einer Anlage wie der unseren, wo man weniger als zwanzig Angestellte in jeder Schicht hat, lernt man einander eigentlich recht gut kennen. Wir sind vierundzwanzig Stunden am Tag in Betrieb, sieben Tage die Woche, und daher ist das hier wie eine Familie für mich. Ich muß sagen, Lorna war ein bißchen unnahbar. Sie war nicht unhöflich oder abweisend, aber reserviert. In den Pausen schien sie regelmäßig die Nase in ein Buch zu stecken. Sie brachte sich ein Lunchpaket mit und setzte sich manchmal zum Essen hinaus in ihr Auto. Freiwillig gab sie einem nicht viele Informationen. Sie antwortete auf Fragen, aber sie war nicht entgegenkommend.«
»Sie wurde mir von manchen als verschlossen beschrieben.«
Bei diesem Begriff verzog er die Miene. »Das würde ich nicht sagen. >Verschlossen< klingt in meinen Ohren irgendwie düster. Sie war freundlich, aber irgendwie distanziert. Der Begriff zurückhaltend könnte es treffen.«
»Wie würden Sie Ihr Verhältnis zu ihr beschreiben?«
»Mein Verhältnis?«
»Ja, ich wüßte gern, ob Sie sie je außerhalb der Arbeit getroffen haben.«
Sein Lachen wirkte verlegen. »Wenn Sie das meinen, was ich glaube, muß ich sagen, daß ich mich geschmeichelt fühle, aber sie war nichts weiter als eine Angestellte. Sie war ein hübsches Mädchen, aber sie war... was — vierundzwanzig Jahre alt?«
»Fünfundzwanzig.«
»Und ich bin doppelt so alt. Glauben Sie mir, Lorna war an einem Mann meines Alters nicht interessiert.«
»Warum nicht? Sie sehen gut aus und machen einen sympathischen Eindruck.«
»Ihr Urteil freut mich, aber für ein Mädchen in ihrer Position bedeutet das nicht viel. Sie war vermutlich auf Heiraten und Familiengründung aus, das letzte, was mich interessieren würde. In ihren Augen war ich doch bloß ein leicht übergewichtiger, alter Knallkopf. Außerdem schätze ich es, wenn mich mit den Frauen, mit denen ich ausgehe, gemeinsame Interessen verbinden, aber sie hatte von der Tet-Offensive noch nie
Weitere Kostenlose Bücher