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Kinsey Millhone 11 - Frau in der Nacht

Kinsey Millhone 11 - Frau in der Nacht

Titel: Kinsey Millhone 11 - Frau in der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sue Grafton
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wenn man es vor einem anderen Hintergrund sieht. Ich gebe zu, daß dieses System meistens zu rein gar nichts führt, aber es lohnt sich doch oft genug, um es beizubehalten. Außerdem ist es geruhsam, hält mich zur Ordnung an und liefert eine visuelle Gedankenstütze für den jeweils aktuellen Fall.
    Ich hängte Lornas Foto neben die Karten an die Wand. Sie sah mich mit ihren ruhigen, haselnußbraunen Augen und diesem rätselhaften Lächeln gelassen an. Ihr dunkles Haar war glatt aus dem Gesicht gestrichen. Schlank und elegant lehnte sie mit den Händen in den Taschen an der Wand. Ich studierte sie, als könne sie von sich geben, was sie in den letzten Minuten ihres Lebens erfahren hatte. Unergründlich wie eine Katze erwiderte sie meinen Blick. Zeit, mich mit Lornas Tagespersönlichkeit vertraut zu machen.
    Ich fuhr die zweispurige Asphaltstraße entlang, an den flachen, wogenden Feldern mit trockenem Gras vorbei, mattes Grün, mit Gold überzogen. Da und dort standen immergrüne Eichen in Grüppchen beisammen. Es war bedeckt, und der Himmel bot eine fremdartige Mischung aus anthrazitfarbenen und schwefelgelben Wolken. Die ferne Bergkette lag in blauem Dunst, und auf ihrer Stirnseite waren die steilen Sandsteinwände zu sehen. Dieser Teil von Santa Teresa County besteht im Grunde aus Wüste, und der Boden eignet sich eher für Sträucher und Beifuß als für produktiven Ackerbau. Sämtliche Bäume wurden von den ersten Siedlern in dieser Gegend gepflanzt. Das einst so verdorrte Land ist inzwischen sanft und kultiviert, aber über den frisch bestellten Äckern schwebt immer noch die Aura der unerbittlichen Sonne. Nähme man die Bewässerungsanlagen, die Wasserschläuche und Sprenganlagen weg, würde die Vegetation in ihren Urzustand zurückkehren: Kreuzdorn- und Wermutsträucher, Bärentraube und Präriegras, die in trockenen Jahren ein Raub der Flammen werden. Träfen die derzeitigen Vorhersagen zu, und vor uns läge tatsächlich eine weitere Dürre, würde das ganze Buschwerk zum Pulverfaß, und das ganze Land fiele einer Feuerwalze zum Opfer.
    Vor mir, zur Linken, stand die Wasseraufbereitungsanlage von Santa Teresa, die in den sechziger Jahren gebaut worden war: rotes Ziegeldach, drei weiße Stuckbögen und ein paar kleine Bäume. Hinter den flachen Umrissen des Gebäudes entdeckte ich den Irrgarten der Einfassungen von Betonbecken. Zu meiner Rechten wies ein Schild auf die Existenz des Largo-Reservoirs hin, obwohl das Gewässer selbst von der Straße her nicht sichtbar war.
    Ich parkte vor dem Gebäude und ging die Steinstufen hinauf und durch die doppelte Glastür. Der Empfang befand sich links vom Eingang, hinter dem sich ein weiter Raum öffnete, der offensichtlich auch als Vortragssaal genutzt wurde. Die Angestellte hinter der Empfangstheke mußte Lornas Nachfolgerin sein. Sie wirkte jung und kompetent, besaß aber nicht einmal einen Anflug von Lornas Schönheit. Das kupferne Schildchen vor ihr besagte, daß sie Melinda Ortiz hieß.
    Anstatt mich vorzustellen, gab ich ihr eine meiner Visitenkarten. »Könnte ich ein paar Minuten mit dem Werksleiter sprechen?«
    »Der Lieferwagen hinter Ihrem Auto ist seiner. Er ist gerade gekommen.«
    Ich drehte mich noch rechtzeitig um, um einen Lieferwagen, der dem County gehörte, in die Einfahrt biegen zu sehen. Roger Bonney stieg aus und ging mit besorgter Miene auf uns zu, als sei er auf dem Weg zu einer Besprechung und mit seinen Gedanken bereits bei der bevorstehenden Konferenz.
    »Kann ich ihm sagen, worum es sich handelt?«
    Ich sah wieder zu ihr hin. »Lorna Kepler.«
    »Oh, die. Das war ja schrecklich.«
    »Haben Sie sie gekannt?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe andere über sie reden hören, bin ihr aber nie selbst begegnet. Ich bin erst seit zwei Monaten hier. Sie hatte diesen Job vor dem Mädchen, nach dem ich kam. Vielleicht gab es auch noch eine dazwischen. Mr. Bonney mußte nach ihr mehrere durchmachen.«
    »Arbeiten Sie Teilzeit?«
    »Nachmittags. Ich habe kleine Kinder, deshalb ist das für mich ideal. Mein Mann arbeitet nachts, und da kann er sie versorgen, solange ich nicht da bin.«
    Bonney betrat mit einem braunen Umschlag in der Hand die Empfangshalle. Er hatte ein stark gebräuntes, breites Gesicht und zerzaustes, lockiges Haar, das vermutlich bereits zu ergrauen begonnen hatte, als er fünfundzwanzig war. Die Kombination von Furchen und Falten in seinem Gesicht wirkte attraktiv. Womöglich war er in seiner Jugend allzu gutaussehend gewesen,

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