Kinsey Millhone 11 - Frau in der Nacht
Sie das letzte Mal mit Lorna gesprochen?« fragte ich.
»Am Freitag morgen, dem zwanzigsten April«, antwortete er. »Ich weiß es noch, weil ich an diesem Wochenende ein Golfturnier hatte und hoffte, früh aus der Arbeit zu kommen und noch aufs Drivingrange zu gehen. Sie hätte um ein Uhr da sein sollen, rief aber an und sagte, sie hätte einen ganz schlimmen Allergieanfall. Sie wollte ohnehin verreisen, wissen Sie, um den Pollen zu entkommen, und so habe ich gesagt, sie soll sich ruhig den Tag freinehmen. Es wäre sinnlos gewesen, sie herkommen zu lassen, wenn sie sich miserabel fühlte. Der Polizei zufolge ist sie am Tag darauf gestorben.«
»Und sie sollte am siebten Mai wieder zu arbeiten beginnen?«
»Das müßte ich nachsehen. Es müßte zwei Wochen nach dem drauffolgenden Montag gewesen sein, aber da hatten sie sie ja schon gefunden.« Er schaltete wieder auf den Reiseführertonfall um und sprach über Baukosten, als wir den nächsten Teil der Anlage betraten. Das leise Rauschen des plätschernden Wassers und der Chlorgeruch schufen ein geändertes Bewußtsein. Die allgemeine Stimmung gemahnte an Stauwasserventile und unter Druck stehende Tanks, die kurz vorm Explodieren sind. Es hatte den Anschein, als bedürfe es nur eines heftigen Rucks des San-Andreas-Grabens, und die ganze Anlage würde zusammenbrechen und Milliarden von Litern Wasser und Schutt ausspeien, die uns beide binnen Sekunden töten würden. Ich drängte mich näher an ihn heran und heuchelte ein Interesse, das ich im Grunde nicht hatte.
Als ich wieder zuhörte, sagte er gerade: »Das Wasser wird vorchloriert, um Krankheitserreger auszuschalten. Dann setzen wir Gerinnungsmittel zu, durch die sich die feinen Partikel zusammenklumpen. Dabei werden meist Polymere zugegeben, um die Bildung unlöslicher Flocken zu fördern, die dann ausgefiltert werden können. Wir haben hinten ein Labor, damit wir die Wasserqualität überwachen können.«
Oh, toll. Nun konnte ich mir Sorgen über Krankheitserreger machen, die frei im Labor herumliefen. Dabei hatte ich Trinkwasser immer für etwas so Einfaches gehalten. Man holt sich ein Glas, dreht den Hahn auf, füllt es bis zum Rand und schüttet es hinunter, bis man rülpsen muß. Ich hatte noch nie über unlösliche Flocken oder Gerinnungsmittel nachgedacht. Igitt.
Während er die Funktionsweise der Anlage erklärte, was er in der Vergangenheit bereits hundertmal durchexerziert haben mußte, merkte ich, wie er jeden Zentimeter des Gebäudes peinlich genau musterte, um für die bevorstehende Inspektion gerüstet zu sein. Polternd stiegen wir eine kurze Eisentreppe hinunter und gingen durch eine Tür nach draußen. Nach dem ganzen Kunstlicht drinnen schien der Tag seltsam hell zu sein, und die feuchte Luft roch nach Chemikalien. Lange Arbeitsstege verliefen zwischen Gruppen offener, von Metallgeländern umgebener Becken, in denen stilles Wasser bewegungslos wie Glas ruhte und den grauen Himmel und die Unterseite der Gitter widerspiegelte.
»Das sind die Ausflockungs- und Gerinnungsbecken. Das Wasser wird immer wieder umgewälzt, um Flocken von gewisser Größe und Dichte zu erzeugen, die später in den Klärbecken entfernt werden.«
Ich sagte so etwas wie »Hmm« und »Mhm«.
Er redete weiter, da für ihn die ganzen Vorgänge selbstverständlich waren. Was ich vor mir sah (wobei ich mich darum bemühte, meinen heftigen Ekel zu unterdrücken), waren Tröge, in denen das Wasser mit einer zähflüssigen Masse an der Oberfläche stand, von Blasen bedeckt und trüb. Der Schlamm war so schwarz wie Lakritze und sah aus, als bestünde er aus geschmolzenen Autoreifen und befände sich kurz vor dem Siedepunkt. Perverserweise malte ich mir einen Sprung in die teerigen Tiefen aus und fragte mich, ob mir, wenn ich mich wieder an die Oberfläche gekämpft hätte, aufgrund der ganzen Chemikalien das Fleisch in Fetzen vom Körper hinge. Steven Spielberg könnte sich mit diesem Zeug sicher köstlich amüsieren.
»Sie sind aber nicht von der Polizei?« fragte er. Er war nicht ein einziges Mal stehengeblieben.
»Nein, nicht mehr. Vom Gemüt her eigne ich mich besser für den privaten Sektor.«
Ich trottete hinter ihm drein wie ein Kind am Wandertag, das unrettbar vom Rest der Klasse isoliert ist. Vor dem Hintereingang der Anlage stand ein großes, seichtes Staubecken mit rissigen, schwarzen Rückständen, das wie ein auftauender Schmutztümpel aussah. In ein paar tausend Jahren würden Anthropologen das Ganze ausgraben
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