Kinsey Millhone 11 - Frau in der Nacht
Wunder gewirkt, was ihre Einstellung anging, aber womöglich wußte Lorna gar nicht, welche Feindseligkeit sie ihr gegenüber hegten. Oder vielleicht wußte sie es und empfand dasselbe ihnen gegenüber. Auf jeden Fall war der Nachlaß nicht kompliziert. Ich fand nicht, daß die Dienste eines Anwalts notwendig gewesen wären, aber vielleicht hatten sich die Keplers von dem ganzen offiziellen Papierkrieg einschüchtern lassen.
Ich überprüfte die letzten paar Jahre von Lornas Einkommensteuer. Die einzigen Einträge auf den Lohnsteuerkarten stammten von der Wasseraufbereitungsanlage. Unter »Beruf« hatte sie »Sekretärin« und »Beraterin für Psychohygiene« eingetragen. Darüber mußte ich schmunzeln. Sie hatte ihre Einkünfte peinlich genau angegeben und lediglich die üblichen Abzüge vorgenommen. Sie hatte nie auch nur einen Cent für wohltätige Zwecke gespendet, war aber (im großen und ganzen) dem Staat gegenüber ehrlich gewesen. Für den Kunden ließen sich die Dienste einer Prostituierten wohl durchaus unter Psychohygiene abbuchen. Was die Zahlungen selbst anging, so hatte sich offenbar im Finanzamt nie jemand gefragt, warum ihr der größte Teil ihrer »Beratungshonorare« in bar bezahlt wurde.
Janice hatte beim Postamt beantragt, daß Lornas Post an ihre Adresse weitergeleitet würde und einen Stapel noch ungeöffneter Kontoauszüge in die Schachtel geworfen: Fensterumschläge von verschiedenen Absendern, alle mit dem Aufdruck »wichtige Steuerinformationen« . Ich öffnete einige von ihnen, einfach um den Rechnungsabschluß mit meiner Liste zu vergleichen. Darunter war ein Auszug von einer Bank in Simi Valley, die in den letzten beiden Jahren immer wieder in ihren Steuererklärungen aufgetaucht war. Das Konto war aufgelöst worden, aber die Bank hatte ihr ein 1099-INT-Formular geschickt, auf dem die in den ersten vier Monaten des Jahres angefallenen Zinsen vermerkt waren. Das steckte ich zu den anderen Auszügen. Sämtliche Kreditkarten waren gekündigt und alle Gesellschaften verständigt worden. Ich ging einige der von Lorna angelegten Ordner durch: eingelöste Schecks, Stromrechnungen und mehrere Kreditkartenquittungen.
Ich breitete die Scheckabrechnungen vor mir aus wie eine Patience. Unter »Memo« hatte sie pflichtbewußt den Zweck der Zahlung eingetragen: Lebensmittel, Maniküre, Friseur, Bettwäsche, Verschiedenes. Ihre Sorgfalt hatte etwas Rührendes. Sie konnte nicht wissen, daß sie tot sein würde, wenn diese Quittungen zurückkamen. Sie wußte nicht, daß ihre letzte Mahlzeit die letzte war, daß jede Handlung, jedes Vorhaben, Teil eines begrenzten Reservoirs war, das bald erschöpft sein würde. Das schwerste an meinem Beruf ist, daß ich unaufhörlich an die Tatsache erinnert werde, die wir alle so beharrlich zu ignorieren versuchen: Wir sind nur vorübergehend hier... das Leben ist uns nur geliehen.
Ich legte meinen Stift zur Seite, schwang die Füße auf den Schreibtisch und lehnte mich in meinem Drehstuhl zurück. Der Raum kam mir dunkel vor, und so streckte ich den Arm aus und schaltete die Lampe ein, die hinter mir auf dem Bücherregal stand. Unter Lornas Eigentum war weder ein Adreßbuch noch ein Kalender, noch irgendein Terminplaner gewesen. Das hätte meine Neugier wecken können, aber ich fragte mich, ob es nicht eher für Lornas Vorsicht hinsichtlich ihrer Kunden sprach. Danielle hatte mir berichtet, daß sie sehr verschwiegen war, und ich dachte mir, daß diese Diskretion sich vielleicht auch auf schriftliche Notizen erstreckte. Ich nahm den braunen Umschlag mit den Fotos vom Tatort in die Hand und ging sie durch, bis ich die Einstellungen fand, die die Papiere auf ihrem Tisch und der Anrichte zeigten. Ich zog die Lampe näher heran, aber es war nicht zu erkennen, ob irgendwo ein Terminkalender lag. Ich sah auf die Uhr. Ich war hundemüde. Außerdem war ich angeödet und hungrig, merkte aber, wie sich meine Sinne mit der zunehmenden Dunkelheit schärften. Vielleicht wurde ich langsam zu einem Vampir oder Werwolf — vom Sonnenlicht vertrieben, vom Mond verführt.
Ich stand auf und warf mir die Jacke über. Lornas Papiere ließ ich auf dem Tisch liegen. Was störte mich? Ich musterte die Schreibtischplatte. Eine Tatsache... etwas Offensichtliches... war durch meine Hände gegangen. Das Problem mit der Müdigkeit besteht darin, daß das Gehirn nicht gerade auf Hochtouren arbeitet. Wie beiläufig blieb ich stehen, schob einen Stoß Papiere zur Seite und blätterte die
Weitere Kostenlose Bücher