Kinsey Millhone 11 - Frau in der Nacht
nach Flaum ab. Schließlich sagte sie: »Schwören Sie, daß Sie es nicht weitersagen?«
Ich hielt die Hand hoch, als leistete ich einen Eid. »Ich werde keiner Menschenseele auch nur ein Wort verraten. Ich werde nicht einmal erwähnen, daß Sie es erwähnt haben.«
»Wir hatten einfach die Nase voll davon, uns anzuhören, wie wunderbar sie war. Weil sie nämlich gar nicht so toll war. Sie war hübsch und hatte eine Superfigur, aber als ob das so umwerfend wäre, verstehen Sie?«
»Klar«, sagte ich.
»Außerdem hat sie Geld für Sex genommen. Ich meine, Berlyn und ich hätten das nie getan. Also weshalb wurde Lorna in den Himmel gehoben? Sie war nicht makellos. Sie war nicht einmal gut .«
»So ist die menschliche Natur, schätze ich. Ihre Mutter kann Lorna nicht mehr in ihrem Leben haben, aber sie bewahrt sich ein perfektes Bild in ihrem Herzen«, sagte ich. »Es ist schwer, das abzulegen, wenn es das einzige ist, was man besitzt.«
Ihre Stimme wurde schriller. »Aber Lorna war ein Miststück. Sie dachte einzig und allein an sich selbst. Sie hat Mom und Dad praktisch ignoriert. Ich bin diejenige, die ihnen hilft, warum auch immer. Ich bin so nett, wie ich nur kann, aber es spielt einfach keine Rolle. Lorna ist diejenige, die Mom liebt. Berlyn und ich sind nichts als Schrott.« Die Gefühle ließen ihre Haut chamäleonartig die Farbe wechseln. Tränen wallten auf wie Blasen in Wasser, das plötzlich zu kochen beginnt. Sie hielt sich eine Hand vors Gesicht, das zuckte, als sie zu schluchzen begann.
Ich berührte ihre Hand. »Trinny, das stimmt einfach nicht. Ihre Mutter liebt Sie sehr. An dem Abend, als sie in mein Büro gekommen ist, hat sie über Berlyn und Sie gesprochen, über den ganzen Spaß, den Sie zusammen haben und welche Hilfe Sie im Haushalt sind. Sie bedeuten ihr viel. Ehrlich.«
Mittlerweile weinte sie, und ihre Stimme klang hoch und gequält. »Warum sagt sie es uns dann nicht? Nie sagt sie ein Wort.«
»Vielleicht traut sie sich nicht. Oder vielleicht weiß sie nicht mehr wie, aber das heißt nicht, daß sie Sie nicht über alles liebt.«
»Ich halte es nicht aus. Ich halt’s einfach nicht aus.« Sie schluchzte wie ein Kind und ließ ihrem Kummer freien Lauf. Ich blieb sitzen und ließ sie die Sache allein ausleben. Schließlich versiegten die Tränen, und sie seufzte schwer. Sie wühlte in der Tasche ihrer abgeschnittenen Jeans und zog ein ramponiertes Taschentuch hervor, das sie sich gegen die Augen preßte. »O Gott«, sagte sie. Sie stützte die Ellbogen auf den Tisch und schneuzte sich. Dann sah sie nach unten und merkte, daß sich an ihrem Unterarm die nasse Farbe abgedrückt hatte. »Ach, Mist. Sehen Sie sich das an«, sagte sie. Sprudelndes Lachen stieg in ihr auf, wie ein versehentlich entwichener Rülpser.
»Was ist denn hier los?« Berlyn stand in der Tür und sah argwöhnisch drein.
Wir fuhren beide zusammen, und Trinny schnappte nach Luft. »Berl! Du hast mich fast zu Tode erschreckt«, rief sie. »Wo kommst du denn her?« Sie wischte sich hastig die Augen und versuchte die Tatsache zu vertuschen, daß sie geweint hatte.
Berlyn hielt eine Plastiktüte mit Lebensmitteln in der einen Hand und ihren Schlüsselbund in der anderen. Sie sah Trinny durchdringend an. »Tut mir leid, wenn ich hier hereinplatze. Ich wußte nicht, daß ich störe. Ich habe unübersehbar in der Einfahrt geparkt.« Ihr Blick fiel auf mich.»Was ist denn mit Ihnen los?«
»Nichts«, sagte ich. »Wir haben über Lorna gesprochen, und Trinny hat die Fassung verloren.«
»Das hat mir gerade noch gefehlt. Ich habe schon genug über sie gehört. Daddy hat wirklich recht. Lassen wir das Thema doch endlich fallen und reden von etwas anderem. Wo ist Mom? Ist sie schon aufgestanden?«
»Ich glaube, sie steht unter der Dusche«, sagte Trinny.
Verspätet fiel mir auf, daß irgendwo Wasser lief.
Berlyn ließ ihre Handtasche auf einen Stuhl fallen und ging zur Anrichte hinüber, wo sie die Lebensmittel auszupacken begann.* Wie Trinny trug auch sie abgeschnittene Jeans, ein T-Shirt und Gummilatschen, die Berufskleidung der Assistentin des vielbeschäftigten Installateurs. Man konnte die dunklen Wurzeln an ihrem blonden Haar sehen. Trotz des Altersunterschieds von vier Jahren sah sie so aus, wie Lorna im mittleren Alter ausgesehen hätte. Vielleicht ist es gar nicht so schlecht, jung zu sterben — die vollkommene Schönheit konserviert im Bernstein der Zeit.
Berlyn wandte sich an Trinny. »Könntest du mir
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