Kinsey Millhone 11 - Frau in der Nacht
vielleicht helfen?« fragte sie beleidigt. »Wie lange ist sie denn schon da?«
Trinny warf mir einen flehentlichen Blick zu und ging hinüber, um ihrer Schwester zur Hand zu gehen.
»Zehn Minuten«, warf ich ein, obwohl ich gar nicht gefragt worden war. »Ich wollte nur die Sachen abholen, die Ihre Mutter für mich bereitgestellt hat. Trinny hat mir gezeigt, wie man T-Shirts macht, und dann sind wir über Lornas Tod ins Gespräch gekommen.« Ich griff nach der Schachtel, in der Absicht, das Haus zu verlassen, bevor Janice auftauchte.
Berlyn musterte mich interessiert. »Das haben Sie schon gesagt.«
»Ah. Na ja. So nett es hier auch ist, ich muß mich auf die Socken machen.« Ich erhob mich, schlang mir den Riemen meiner Umhängetasche über die Schulter und nahm die Schachtel. »Danke für die Malstunde«, sagte ich zu Trinny. »Das mit Lorna tut mir leid. Ich weiß, daß Sie sie gern hatten.«
Ihr Lächeln wirkte gequält. Sie sagte »Bye« und winkte mir halbherzig zu. Berlyn ging ohne auch nur den Blick zu wenden ins Fernsehzimmer und schloß die Tür mit einem energischen Klicken hinter sich. Ich streckte ihr die Zunge heraus und schielte, was Trinny zum Lachen brachte. Mit lautlosen Lippenbewegungen warf ich ihr ein »Dankeschön« zu und verabschiedete mich.
Es war schon fast halb sechs, als ich die Tür zu meinem Büro aufschloß und die Schachtel mit Lornas Akten auf meinen Schreibtisch stellte. Alle anderen aus der Firma waren bereits nach Hause gegangen. Sogar Lonnie, der meist Überstunden macht, hatte sich bereits getrollt. Meine ganzen Steuerformulare und Rechnungen lagen noch genau da, wo ich sie zurückgelassen hatte. Ich war enttäuscht darüber, daß keine Feen und Elfen gekommen waren und mir die Arbeit abgenommen hatten. Ich packte alle Zettel zusammen und stopfte sie in eine Schublade, um Raum zu schaffen. Ich bezweifelte, daß sich in Lornas Akten irgendwelche Informationen finden würden, aber ich mußte sie trotzdem durchsehen. Ich machte Kaffee und setzte mich. Dann nahm ich den Deckel der Schachtel ab und begann, mich durch die Aktenordner zu arbeiten. Es hatte den Anschein, als hätte jemand Lornas Papiere aus einer Schreibtischschublade genommen und sie direkt in die Schachtel gelegt. Jeder Ordner war säuberlich beschriftet. Vorne waren Kopien verschiedener Nachlaßformulare hineingeschoben worden, die Janice vermutlich vom Anwalt bekommen hatte. Es sah ganz danach aus, als sei sie es gewesen, die mittels handschriftlicher Anmerkungen alles schon im voraus aussortiert und zusammengesucht hatte. Ich studierte jedes einzelne Blatt und versuchte, mir ein Bild von Lorna Keplers finanzieller Situation zu machen.
Ein Steuerberater wäre mit diesem Zeug sicher schnell fertig geworden. Ich dagegen hatte in der High-School immer nur gerade noch »befriedigend« in Mathe bekommen und mußte nun die Stirn runzeln und am Bleistift kauen. Janice hatte eine Aufstellung von Lornas Vermögenswerten angefertigt, auf der das Bargeld, das sie zum Zeitpunkt ihres Todes besaß, nicht eingelöste, auf sie ausgestellte Schecks, Bankkonten, Aktien, Wertpapiere, Staatsanleihen und Investmentfonds aufgelistet waren. Lorna hatte weder eine Renten- noch eine Lebensversicherung gehabt. Allerdings verfügte sie über eine kleine Versicherungspolice für ihren Schmuck. Sie hatte zwar keinen Besitz im eigentlichen Sinne gehabt, doch ihre Geldanlagen beliefen sich auf knapp fünfhunderttausend Dollar. Nicht schlecht für eine Teilzeit-Bürokraft/Hure. Janice hatte eine Kopie von Lornas Testament beigelegt, das ziemlich eindeutig schien. Sie hatte ihre gesamten Wertsachen einschließlich Schmuck, Bargeld, Aktien, Wertpapiere und andere Geldwerte ihren Eltern hinterlassen. An das Testament angeheftet war eine Kopie des gültigen »Nachweises über ein eigenhändig verfaßtes Testament«, den Janice eingereicht hatte. Darin bezeugte sie, daß sie mit der Toten seit fünfundzwanzig Jahren vertraut war, ihre Handschrift persönlich kannte und »das Testament untersucht und festgestellt hatte, daß die Verstorbene sowohl die handschriftlich niedergelegten Bestimmungen selbst geschrieben als auch die Urkunde eigenhändig unterzeichnet hat«.
Danielle hatte gemutmaßt, daß Lorna kein Testament gehabt hatte, doch das Dokument schien zu Lornas systematischem Charakter zu passen. Sie hatte weder Berlyn noch Trinny Geld hinterlassen, aber das schien nicht außergewöhnlich. Zweitausend Dollar für jede hätten vielleicht
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