Kinsey Millhone 14 - Kopf in der Schlinge - N wie Niedertracht
ihren Inhalt durch. Oben auf der zweiten Kiste stieß ich auf zwei dicke, blaue Ringbücher, die vielversprechend aussahen. Offensichtlich hatte Tom Kopien der meisten Berichte aus den Unterlagen des Sheriffbüros angefertigt. Vor mir lag ein Berg unaufgeklärter Kriminalfälle, bei denen die Ermittlungen noch nicht endgültig eingestellt worden waren, obwohl manche davon schon viele Jahre alt und die Kopien vergilbt waren. Diese Fälle wurden von den Detectives wieder aufgegriffen, wenn neue Informationen oder zusätzliche Hinweise ans Licht kamen. Ich blätterte sie interessiert durch. Sie umfaßten die Kriminalität in Nota Lake von 1935 bis heute. Selbst wenn man zwischen den Zeilen las, wurde deutlich, dass bei den frühen Fällen wenig Aufhebens um den Angeklagten gemacht wurde, und der Begriff der »Opferrechte« wäre ebenso als abwegige Vorstellung erschienen. Damals hatte das Opfer das Recht, vor Gericht auf Wiedergutmachung zu klagen. Heutzutage geht es bei einem Prozeß nicht mehr um Schuld oder Unschuld. Es ist eine Schlacht, in der die Gerissenheit zählt, in der rivalisierende Anwälte wie intellektuelle Gladiatoren ihr rhetorisches Können aneinander messen. Kennzeichen eines guten Strafverteidigers ist seine Fähigkeit, wie ein Taschenspieler jedes x-beliebige Bündel an Tatsachen zu nehmen und in solchem Licht darzustellen, dass das, was unumstößlich schien - Simsalabim -, zu einem Schwindel oder einem ausgeklügelten Komplott von Seiten der Polizei oder der Regierung umgemünzt wird. Auf einmal steht der Täter als Opfer da, und der eigentliche Leidtragende wird dabei fast vergessen. »Kinsey?«
Ich zuckte zusammen. Phyllis stand in der Tür.
»Herrgott, haben Sie mich erschreckt«, sagte ich. »Ich habe Sie gar nicht hereinkommen hören.«
»Tut mir leid. Ich gehe jetzt nach Hause. Kann ich Sie kurz sprechen?« »Sicher. Kommen Sie nur herein.«
»Ungestört«, fügte sie hinzu und drehte sich auf dem Absatz um.
10
Ich richtete mich auf und folgte ihr den Flur entlang. Hinter uns konnte ich Selma am Telefon mit jemandem plaudern hören. Phyllis öffnete die Haustür und ging auf die Veranda hinaus. Ich zögerte und gesellte mich schließlich zu ihr, während sie hinter uns die Tür schloß. Die Kälte war wie ein eisiger Windstoß. Der Himmel hatte sich zugezogen, und in der Ferne wallten schwere graue Wolken die Berge herab. Ich verschränkte die Arme und hielt die Füße dicht beieinander, um möglichst viel Körperwärme gegen den Ansturm des frostigen Wetters zu bewahren.
Phyllis' Bekleidung bestand aus luftigem Baumwollstoff und schien sich eher für ein sommerliches Grillfest zu eignen. Sie trug knöchelkurze Tennissöckchen, deren kleine Bommeln auf den Hacken ihrer Straßenschuhe ruhten. Keinen Mantel und keine Jacke. Sie sprach mit leiser Stimme, als würde Selma womöglich auf der anderen Seite der Tür lauschen. »Da ist etwas, das ich gern erwähnen würde, solange ich Gelegenheit dazu habe.«
»Frieren Sie nicht?« fragte ich. Sie stand vor mir, die nackten Arme in einer dünnen Baumwollbluse, während ihr der Rock gegen die bloßen Beine wehte.
Ich trug einen langärmligen Rollkragenpullover und Jeans und stand trotzdem kurz davor, einen Krampf im Kiefer zu bekommen, weil ich derart darum rang, nicht mit den Zähnen zu klappern.
Sie machte eine wegwerfende Handbewegung, als wischte sie die bittere Kälte beiseite. »Das bin ich gewöhnt. Macht mir nichts aus.
Es dauert ja nur einen Moment. Ich hätte schon früher etwas sagen sollen, aber ich bin nicht dazu gekommen.«
Für Mitte März war ihr Teint erstaunlich braungebrannt. Da ihr sonstiger Körper bleich war, mußte ich vermuten, dass es vom Skifahren kam. Ihr Gesicht war in ansprechender Weise von Falten durchzogen, feine Linien lagen um die Augenwinkel und umrahmten ihren Mund. Ihre Nase war lang und gerade, die Zähne sehr weiß und ebenmäßig. Sie sah aus wie der ideale Mensch, den man sich zur Seite wünscht, wenn man niedergeschlagen ist; angenehm und tüchtig, ohne allzu ernst zu sein.
Draußen im Garten blies eine steife Brise durch das verdorrte Gras. Ich kniff den Mund zu, damit ich nicht auf jaulte wie ein Hund. Von der Kälte begannen mir die Augen zu tränen. Bald würde meine Nase zu laufen beginnen, und ich hatte kein Taschentuch bei mir. Ich zog einmal die Nase hoch, um den Moment, in dem ich meinen Hemdsärmel benutzen mußte, möglichst weit hinauszuzögern. Dann konzentrierte ich mich auf
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