Kinsey Millhone 14 - Kopf in der Schlinge - N wie Niedertracht
also ist es ganz gut so.«
»Wissen Sie, was ich bereue? Ich wünschte, ich hätte bei Familiengeschichten besser zugehört. Oder vielleicht wünsche ich mir, jemanden zu haben, dem ich sie weitergeben kann. Die ganze mündliche Überlieferung für die Katz. Ich frage mich, was mit den Alben voller Familienfotos geschieht, wenn ich einmal tot bin. Sie werden im Müll landen... sämtliche Onkel und Tanten futsch. In Trödelläden kann man manchmal welche bekommen, alte Schwarzweißfotos mit gewellten Rändern. Das weiße Holzhaus, der Gemüsegarten mit dem durchhängenden Maschendrahtzaun, der feierlich dreinblickende Familienhund«, sagte sie und verstummte. Dann wechselte sie abrupt das Thema. »Was haben Sie denn mit Ihrer Hand angestellt?«
»Jemand hat mir die Finger ausgerenkt. Sie hätten sie sehen sollen... wie sie seitwärts abstanden. Mir wurde ganz schlecht«, sagte ich. Wir schlenderten ein Stück weiter. Zu unserer Rechten trennte ein niedriges Mäuerchen den Gehweg vom Sand auf der anderen Seite. Bis zur Brandung lagen ungefähr zweihundert Meter Strand dazwischen. Bei den momentanen Wetterbedingungen sah das alles trostlos aus. »Wie kommen wir bis jetzt voran?« fragte ich.
»In welcher Hinsicht?«
»Ich nehme an, dass Sie mich abtaxieren und versuchen, sich darüber klarzuwerden, wieviel Sie mir erzählen wollen.«
J »Ja, das stimmt«, räumte sie ein. »Tom hat mir vertraut, und das nehme ich ernst. Ich meine, auch wenn er tot ist - warum soll ich sein Vertrauen mißbrauchen?«
»Das ist Ihre Entscheidung. Vielleicht geht es um einen ungelösten Fall, und Sie hätten die Gelegenheit, ihn an seiner Stelle abzuschließen.«
»Hier geht es nicht um Tom, sondern um seine Frau.« »So könnten Sie es sehen.« »Warum soll ich ihr helfen?«
»Einfaches Mitgefühl. Sie hat ein Recht auf ihren Seelenfrieden.«
»Haben wir das nicht alle?« sagte sie. »Ich bin der Frau nie begegnet und fände sie wahrscheinlich nicht einmal sympathisch, wenn ich sie kennenlernen würde, also kümmert mich ihr Seelenfrieden einen Dreck.«
»Und Ihr eigener?«
»Das ist meine Sache.« Mehr bekam ich nicht aus ihr heraus. Als wir am Kai ankamen, wurde der Regen wieder stärker. »Ich glaube, ich verabschiede mich hier«, sagte ich. »Ich wohne einen Block in diese Richtung. Falls Sie sich entschließen sollten, mir mehr zu sagen, melden Sie sich einfach.« »Ich werd's mir überlegen.« »Ich könnte Hilfe gebrauchen.« Unter einem immer heftiger werdenden Nieselregen, der mir die Haare kräuselte, trottete ich nach Hause. Was zierten sich die Leute denn immer so? Nichts als ein Haufen schweigsamer Verklemmter. Es war wohl an der Zeit, mit den Spielchen aufzuhören.
16
Ich hielt mich nur so lange in meiner Wohnung auf, wie ich brauchte, um mir die Haare zu frottieren, Handtasche und Schirm zu packen und wieder abzuschließen. Ich holte meinen Wagen und fuhr die zehn Blocks zum Santa Teresa Hospital. 133 Ich erwischte Dr. Yee auf dem Weg zum Parkplatz. Den VW hatte ich am Straßenrand gegenüber der Ambulanz des Krankenhauses abgestellt. Ich ging gerade um das Gebäude herum, um es durch den Haupteingang zu betreten, als Dr. Yee aus einer Seitentür herauskam und sich anschickte, die Straße in Richtung Parkhaus zu überqueren. Ich rief ihn beim Namen, woraufhin er sich umdrehte. Ich winkte, und er wartete, bis ich bei ihm war. In Santa Teresa County ist noch das System Sheriff-Leichenbeschauer in Kraft, bei dem der Sheriff als gewählter Beamter auch für das Amt des Leichenbeschauers zuständig ist. Die Autopsie an sich wird von verschiedenen Gerichtsmedizinern vorgenommen, die beim County unter Vertrag stehen und mit den Ermittlern des Leichenbeschauers zusammenarbeiten. Steven Yee war Mitte Vierzig, ein Sinoamerikaner der dritten Generation, der eine Schwäche für die französische Küche hatte.
»Suchen Sie mich?« Er war gut einsachtzig groß, schlank und gutaussehend und hatte ein weiches, rundes Gesicht. Seine Haare waren glatt, glänzend schwarz und mit exotischen weißen Strähnen durchzogen, die er nach hinten gekämmt trug.
»Gott sei Dank habe ich Sie erwischt! Sind Sie auf dem Weg nach Hause? Ich müßte Sie etwa eine Viertelstunde lang beanspruchen, wenn Sie soviel Zeit erübrigen können.«
Er sah auf die Uhr. »Ich muß erst in einer Stunde im Restaurant sein«, erwiderte er.
»Davon habe ich schon gehört. Sie haben eine zweite Laufbahn eingeschlagen.«
Er lächelte erfreut und zuckte
Weitere Kostenlose Bücher