Kinsey Millhone 15 - Gefaehrliche Briefe O wie Opfer
ihn vor irgendetwas zu bewahren. Er hatte verlangt, dass ich für ihn lüge, und ich hatte mich rundheraus geweigert. Als das nicht klappte, hatte er sich vermutlich diese Lügengeschichte mit »D« ausgedacht — wer immer sie auch war. So wie es klang, kannte sie mich, aber mir wollte um keinen Preis einfallen, wer sie war. D. Das könnte Dee heißen. Dee Dee. Donna. Dawn. Diane. Doreen.
O Scheiße. Natürlich. Jetzt wusste ich ganz genau, wer es war.
Es gab eine Bardame namens Dixie, die in einer Kneipe draußen in Colgate arbeitete, wo Mickey und einige seiner Polizeikumpels nach der Arbeit hingingen, um abzuschalten. Es war nicht ungewöhnlich, dass sich die Männer trafen, um gemeinsam bis spät in die Nacht zu trinken. Anfang der siebziger Jahre gab es häufig Revierpartys am Ende einer Schicht, Besäufnisse, die manchmal bis in den frühen Morgen dauerten. Bei der Polizei gilt Trunkenheit sowohl im öffentlichen wie auch im privaten Rahmen als Disziplinverletzung, ebenso wie außereheliche Affären, säumige Tilgung von Schulden und andere anstößige Verhaltensweisen. Solche Verletzungen können von den Vorgesetzten bestraft werden, da ein Polizist auf Grund seiner öffentlichen Funktion zu jeder Zeit als »im Dienst« betrachtet wird, und würde man ein derartiges Benehmen tolerieren, könnte dies leicht zu ähnlichen Übertretungen während der offiziellen Dienstzeit führen. Als Beschwerden über die Revierpartys eintrafen, verlegten die Beamten ihre Trinkfeste von der Stadt aufs Land, wodurch sie dem Blickfeld ihrer Vorgesetzten entzogen waren. Das Honky-Tonk, wo Dixie arbeitete, wurde zu ihrem beliebtesten Schlupfwinkel.
Als ich Dixie kennen lernte, muss sie Mitte zwanzig gewesen sein, vier oder fünf Jahre älter als ich. Mickey und ich waren seit sechs Wochen verheiratet. Ich war noch Anfängerin und arbeitete bei der Verkehrspolizei, während er zum Detective befördert und zuerst dem Rauschgiftdezernat und dann der Abteilung für Einbruch und Diebstahl unter Lieutenant Dolan zugewiesen worden war, welcher später zur Mordkommission wechselte. Es war Dixie, die die Feierlichkeiten zu jeder Versetzung oder Beförderung organisierte, und uns allen war klar, dass dies lediglich Vorwände waren, um sich zu amüsieren. Ich weiß noch, wie ich an der Bar saß und mit ihr plauderte, während Mickey ein Bier nach dem anderen trank, mit seinen Kumpanen Billard spielte oder mit den Veteranen, die aus Vietnam zurückgekehrt waren, Kriegsgeschichten austauschte. Er hatte im Alter von achtzehn vierzehn Monate Fronteinsatz in Korea abgeleistet und interessierte sich stets dafür, welcher Unterschied zwischen dem Koreakrieg und den Kampfhandlungen in Vietnam bestand.
Dixies Mann Eric Hightower war in Vietnam verwundet worden und kehrte ohne Beine in die Staaten zurück. In seiner Abwesenheit hatte sie eine Barkeeper-Schule besucht, und seit dem Tag, als Erics Schiff ausgelaufen war, arbeitete sie im Tonk. Als er wieder hier war, saß er in seinem Rollstuhl daneben, entweder trübsinnig oder manisch, je nachdem, welche Medikamente er genommen hatte und wie hoch sein Alkoholpegel war. Dixie sedierte ihn mit einer ununterbrochenen Zufuhr von Bloody Marys, die seinen Zorn zu dämpfen schienen. Mir kam sie vor wie eine viel beschäftigte Mutter, die gezwungen ist, ihr Kind mit zur Arbeit zu nehmen. Wir anderen verhielten uns höflich, aber Eric trug gewiss nicht viel dazu bei, sich beliebt zu machen. Mit seinen sechsundzwanzig war er ein alter Mann und vom Leben verbittert.
Fasziniert sah ich immer zu, wie sie Mai Tais, Gin Tonics, Manhattans, Martini-Cocktails und ekelhafte Panschereien wie Pink Squirrels oder Crème-de-Menthe-Frappés mixte. Sie redete unaufhörlich, achtete kaum auf das, was sie tat, gab die Zutaten nach Augenmaß hinzu und spritzte Wasser mit oder ohne Kohlensäure aus dem Zapfhahn hinein. Manchmal bereitete sie vier oder fünf Drinks auf einmal, ohne auch nur einen Moment innezuhalten. Ihr Lachen war rauchig und tief. Sie wechselte pausenlos anzügliche Bemerkungen mit den Männern, die sie alle mit Namen und Lebensumständen kannte. Ich war von ihrer lasziven Selbstsicherheit fasziniert. Außerdem bemitleidete ich ihren Mann mit seiner missmutigen Art und seinen unleugbaren Beschränkungen, die — wie ich vermutete — auch seine Sexualität in Mitleidenschaft zogen. Trotzdem wäre ich nie auf die Idee gekommen, dass sie ihn mit anderen Männern betrog — erst recht nicht mit meinem Mann.
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