Kinsey Millhone 15 - Gefaehrliche Briefe O wie Opfer
herunter, wodurch er in den Augen seiner Kameraden nur umso heroischer wirkte. Er erweckte den Eindruck, als schriebe er trotz der Art, wie man mit ihm umsprang, der Loyalität gegenüber seiner Dienststelle einen höheren Stellenwert zu als seinem Recht, sich gegen völlig aus der Luft gegriffene, ungerechtfertigte Anschuldigungen zu verteidigen. Er war dermaßen überzeugend, dass auch ich ihm glaubte — bis zu dem Moment, als er mich bat, für ihn zu lügen. Eine kriminalpolizeiliche Untersuchung wurde eingeleitet, und da kam ich ins Spiel. Offenbar fehlten in Mickeys Alibi für jene Nacht vier Stunden. Er weigerte sich, zu sagen, wo er gewesen war oder was er in der Zeit zwischen dem Verlassen des Honky-Tonk und seinem Eintreffen zu Hause gemacht hatte. Man verdächtigte ihn, dem anderen Mann gefolgt zu sein und ihn woanders erschlagen zu haben, aber Mickey stritt das ab. Er bat mich, ihn zu decken, und das war der Auslöser dafür, dass ich ging.
Ich verließ ihn am ersten April und reichte am zehnten die Scheidung ein. Ein paar Wochen später stellte sich bei der gerichtsmedizinischen Untersuchung heraus, dass Quintero, ein Vietnamveteran, beim Kampfeinsatz eine Kopfverletzung erlitten hatte. Er war von einem Heckenschützen getroffen worden und trug nun dort, wo ein Stück seines Schädels weggeschossen worden war, eine Edelstahlplatte. Offizielle Todesursache war eine langsame Blutung tief in seinem Gehirn. Jeder unbedeutende Schlag hätte dieses tödliche Sickern auslösen können. Darüber hinaus ergab der toxikologische Befund einen Blutalkoholspiegel von 1,5 Promille sowie Spuren von Amphetamin, Marihuana und Kokain. Es gab keinen konkreten Hinweis darauf, dass Mickey Benny nach ihrem ersten Gerangel auf dem Kneipenparkplatz noch einmal getroffen hatte. Der Staatsanwalt lehnte es ab, Anklage zu erheben, also war Mickey aus dem Schneider. Doch der Schaden war bereits irreparabel. Er war von der Stadt verstoßen und kurz darauf von mir verlassen worden. In den Jahren seither war meine Ernüchterung langsam geschwunden. Ich wollte ihn zwar nicht sehen, aber ich wünschte ihm auch nichts Böses. Das Letzte, was ich von ihm gehört hatte, war, dass er bei einem privaten Wachdienst arbeitete, ein einst engagierter Polizist, dazu degradiert, in einer nachgemachten Polizeiuniform Nachtdienst zu schieben.
Ich las den Brief noch einmal und fragte mich, wie es weitergegangen wäre, wenn ich ihn damals bekommen hätte. Ich merkte, wie mich ein Schauer der Beklommenheit überlief. Wenn das, was Dixie schrieb, stimmte, dann hatte ich tatsächlich zu seinem Ruin beigetragen.
Ich zog die Schublade auf und nahm mein Adressbuch heraus, das sich wie von Zauberhand auf der Seite öffnete, wo seine Adresse stand. Ich griff zum Hörer und wählte die Nummer. Es klingelte zweimal, dann wurde ich von einem lauten Zweitonpfeifen begrüßt, und die bekannte Ansage teilte mir mit, dass unter dieser Nummer im Vorwahlbereich 213 kein Anschluss mehr bestehe. Nur um sicherzugehen, wählte ich die Nummer noch einmal und bekam dieselbe Ansage zu hören. Ich legte auf und versuchte mir darüber klar zu werden, ob es irgendwelche anderen Anhaltspunkte gab, denen ich nachgehen sollte.
5
Ich hatte das Haus in der Chapel Street seit gut fünfzehn Jahren nicht mehr aufgesucht. Ich parkte davor am Straßenrand und trat durch ein kleines schmiedeeisernes Tor in den Vorgarten. Das Haus war ein weißer Fachwerkbau, simple anderthalb Stockwerke mit einem eckigen Erkerfenster und einer schmalen Seitenveranda. Zwei Fenster im ersten Stock schienen auf dem Erker zu thronen, und einfache hölzerne Filigranleisten schmückten das spitze Dach. 1875 erbaut, war es ein schlichtes Haus, dem das ausreichende Maß an Charme und epochentypischen Details fehlte, um von den lokalen Denkmalschützern als erhaltenswert eingestuft zu werden. Vor dem Haus erinnerte der Strom des Einbahnstraßenverkehrs an die Innenstadt von Santa Teresa, die nur zwei Blocks entfernt lag. In wenigen Jahren würde das Anwesen vermutlich verkauft sein und das Haus seine Tage als Gebrauchtmöbellager oder Tante-Emma-Laden fristen. Schließlich würde das Haus abgerissen und das Grundstück als erstklassige Gewerbeimmobilie angeboten werden. Wahrscheinlich kann man nicht jedes klassische Einfamilienhaus vor der Abrissbirne bewahren, aber bald wird ein Tag kommen, an dem die Geschichte der einfachen Leute komplett ausradiert ist. Die Villen der Reichen werden immer noch dort
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