Kinsey Millhone 15 - Gefaehrliche Briefe O wie Opfer
heruntergedrückten Stellen im Teppich wiesen darauf hin, wo Couch und Sessel früher gestanden hatten. In den eingebauten Bücherregalen links und rechts des Kamins fehlten nun die Bücher. An ihrer Stelle zeigten fünfundzwanzig oder dreißig gerahmte Fotografien eine Myriade lächelnder Gesichter: Babys, Kinder und Erwachsene. Die meisten waren Studioaufnahmen, doch fanden sich auch ein paar vergrößerte Schnappschüsse von Familientreffen darunter.
»Zieht ihr um?«
Er schüttelte den Kopf. »Bundy ist vor sechs Monaten gestorben«, erwiderte er. »Ein großer Teil der Möbel war sowieso von ihr. Ich habe das meiste den Kindern gegeben. Für meine Zwecke ist genug übrig.«
»Sind das die Kinder, da auf den Fotos?«
»Die Kinder und deren Kinder. Wir haben von den vieren insgesamt dreizehn Enkel.«
»Herzlichen Glückwunsch.«
»Danke. Die Jüngste, Jessie — erinnerst du dich an sie?«
»Dunkles, lockiges Haar?«
»Genau die. Die Wildeste aus dem Haufen. Sie ist zwar noch nicht verheiratet, aber sie hat zwei vietnamesische Kinder adoptiert.«
»Was ist sie von Beruf?«
»Anwältin in New York. Für Unternehmensrecht.«
»Lebt von den anderen noch jemand in der Nähe?«
»Scott wohnt drunten in Sherman Oaks. Sie haben sich kreuz und quer verteilt, kommen aber zu Besuch, wenn sie können. Alle sechs, acht Monate werfe ich die Harley an und fahre auf große Rundreise. Es sind brave Kinder, alle miteinander. Das hat Bun fantastisch hingekriegt. Ich bin ein jämmerlicher Ersatz, aber ich tue, was ich kann.«
»Und was treibst du so zurzeit? Ich habe gehört, du bist nicht mehr bei der Polizei.«
»Seit Mai vorigen Jahres. Offen gestanden tue ich eigentlich überhaupt nicht viel.«
»Machst du noch Krafttraining?«
»Geht nicht. Ich bin verletzt worden. Ich hatte einen Unfall im Dienst. Ein Betrunkener hat eine rote Ampel überfahren und meinen Streifenwagen seitlich gerammt. Er war sofort tot, und ich war übel zugerichtet. Mein fünfter Wirbel ist gebrochen, also bin ich schließlich in Frührente gegangen. Mit Anspruch auf Schmerzensgeld.«
»Ein Jammer.«
»Sinnlos, über etwas zu jammern, das man nicht ändern kann. Das Geld reicht für die Rechnungen, und ich habe Zeit für mich selbst. Und du? Ich habe gehört, du bist Privatdetektivin.«
»Schon seit Jahren.«
Er führte mich durch die Küche auf die verglaste Veranda, die an der Hinterseite des Hauses verlief. Er schien genauso zu leben wie ich, beschränkt auf eine Ecke — wie ein Haustier, das allein bleibt, so lange seine Besitzer in der Arbeit sind. Die Küche war makellos sauber. Ich sah einen einzelnen Teller, ein Cornflakes-Schüsselchen, einen Löffel und einen Kaffeebecher im Geschirrständer stehen. Vermutlich benutzte er dieselben wenigen Gegenstände immer wieder und spülte sie nach jeder Mahlzeit ab. Warum sollte er etwas aufräumen, nur um es wieder herauszuholen und erneut zu benutzen? Das Geschirr im Ständer hatte etwas Heimeliges. Es hatte den Anschein, als lebte er ausschließlich in der Küche und auf der Veranda. Ein Schlaffuton, der auch als Couch verwendbar war, stand gemacht am einen Ende, die Laken ordentlich gefaltet und die Kissen darauf gestapelt. Auf dem Fußboden stand ein Fernseher. Der Rest der Veranda war für Holzbearbeitungswerkzeuge reserviert: eine Drehbank, eine Säulenbohrmaschine, eine Langlochbohrmaschine, ein Paar Schraubzwingen, ein Schraubstock, ein Holzmeißel, eine Tischsäge und mehrere Hobel. Er war gerade dabei, zwei Stücke neu herzurichten. Eine Kommode war abgezogen worden und wartete auf weitere Bearbeitung. Daneben lag ein hölzerner Küchenstuhl auf dem Rücken, dessen Beine so steif abstanden wie bei einer toten Beutelratte. Shack musste jede Nacht im schweren Geruch von Terpentin, Leim, Klarlack und Sägespänen schlafen. Er fing meinen Blick auf und sagte: »Der Vorteil des Singledaseins. Man kann tun, was man will.«
Ich sagte: »Wie wahr.«
Vor langer Zeit hatte Bundy einmal die Scheibengardinen genäht und sie an Stangen quer über die Mitte der Fensterreihe gehängt. Der grün-weiß karierte Baumwollstoff, vermutlich bügelfrei, sah immer noch adrett aus: frisch, sauber gewaschen und mit kleinen Vorhangringen zum Anklammern. Ich merkte, wie mir ganz unerwartet die Tränen in die Augen stiegen, und ich musste so tun, als betrachtete ich den Garten, den ich durch das Fenster sehen konnte. Viele der Bäume standen noch, gebeugt wie die Rücken alter Menschen, und neigten sich
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