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Kinsey Millhone 15 - Gefaehrliche Briefe O wie Opfer

Kinsey Millhone 15 - Gefaehrliche Briefe O wie Opfer

Titel: Kinsey Millhone 15 - Gefaehrliche Briefe O wie Opfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sue Grafton
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stehen, wo sie seit jeher standen, die protzigeren unter ihnen zur Verwendung durch Museen, Kunstakademien und Wohltätigkeitsorganisationen umgebaut. Ein durchschnittliches Wohnhaus wie dieses wird wohl kaum die nächste Jahrhundertwende überstehen. Im Moment war es noch in Sicherheit. Der Vorgarten war gepflegt, und der Außenanstrich wirkte frisch. Ich wusste von früheren Gelegenheiten her, dass der Garten hinter dem Haus groß war und eine handgeflieste Terrasse, einen eingebauten Grillplatz und eine Reihe von Obstbäumen umfasste.
    Ich drückte auf die Klingel. Ein schriller Ton hallte gellend durchs Haus. Peter Shackelford, genannt »Shack«, und seine Frau Bundy waren schon lange, bevor wir uns kennen lernten, eng mit Mickey befreundet gewesen. Beide waren zum zweiten Mal verheiratet — Shack war geschieden, Bundy verwitwet. Shack hatte Bundys vier Kinder adoptiert und wie seine eigenen aufgezogen. Damals lud das Paar oft und ungezwungen ein: Pizza, Abende, zu denen jeder etwas Selbstgekochtes beisteuerte oder Grillpartys im Garten mit Papptellern, Plastikbesteck und mitgebrachten Getränken, nach denen beim Aufräumen alle gemeinsam anpackten. Meist waren Säuglinge und Kleinkinder, die wackelig über die Wiese stapften, mit von der Partie. Die größeren Kinder spielten Frisbee oder tobten wie ein Haufen Wilder durch den Garten. Alle Eltern waren anwesend, und es herrschte eine lockere und demokratische Disziplin. Wer dem jeweiligen Bösewicht am nächsten war, durfte eingreifen. Damals war ich von meinem kinderlosen Zustand nicht ganz so begeistert, und so passte ich hin und wieder auf die Kleinen auf, während ihre Eltern ausspannten.
    Mickey und Shack hatten etwa zur gleichen Zeit bei der Polizei von Santa Teresa angefangen und eng zusammengearbeitet. Sie waren zwar nie richtige Partner gewesen, aber zusammen mit einem dritten Cop namens Roy »Lit« Littenberg kannte man sie als die drei Musketiere. Lit und Shack gehörten in dem Jahr, als Mickey unterging, zu den Stammgästen des Honky-Tonk. Ich hoffte, einer von beiden würde wissen, wo Mickey sich aufhielt und was er momentan machte. Außerdem brauchte ich eine Bestätigung für den Inhalt des Briefes. Ich war überzeugt davon gewesen, dass Mickey Benny die Schläge versetzt hatte, die zu seinem Tod geführt hatten. Ich wusste nicht, was ich tun würde, falls sich herausstellte, dass er für diese Nacht ein unanfechtbares Alibi besaß. Die Vorstellung ließ meinen Magen vor Beklommenheit rebellieren.
    Shack machte eine halbe Minute später die Tür auf, brauchte allerdings weitere zehn Sekunden, um zu erfassen, wer ich war. Die Verzögerung gab mir Gelegenheit, die Veränderungen an ihm wahrzunehmen. In der Zeit, als ich ihn gekannt hatte, musste er Ende dreißig gewesen sein. Jetzt war er Anfang fünfzig und gut zehn Kilo schwerer. Die Schwerkraft hatte an sämtlichen Flächen in seinem Gesicht gezogen, das nun von einer Reihe abwärts gerichteter Falten gezeichnet war; dichte Brauen über hängenden Lidern, schlaffe Wangen, ein buschiger Schnurrbart und ein breiter Mund, der sich seinem Doppelkinn entgegenschwang. Sein dickes, schwarz-grau meliertes Haar war ganz kurz geschnitten, als unterläge er immer noch den Polizeivorschriften. Er trug Shorts, Gummilatschen und ein weites weißes T-Shirt, dessen ausgeleierter Halsausschnitt ein Büschel weißes Brusthaar sehen ließ. Genau wie Mickey hatte Shack dreimal die Woche mit Gewichten trainiert, und seine Haltung strahlte nach wie vor Kraft aus.
    »Hallo, Shack. Wie geht’s?«, sagte ich, als ich merkte, dass er meine Identität geklärt hatte. Ich rang mir erst gar kein Lächeln ab. Es war kein zwangloser Besuch, und ich nahm an, dass er für mich weder freundschaftliche noch warme Gefühle hegte.
    Als er zu sprechen begann, tat er dies in erstaunlich mildem Ton. »Mir war schon immer klar, dass du irgendwann auftauchen würdest.«
    »Hier bin ich«, sagte ich. »Darf ich reinkommen?«
    »Warum nicht?«
    Er trat zur Seite und ließ mich vor ihm in die Diele treten. Mit dem Nachhall früherer Zeiten im Ohr wirkte die Stille unnatürlich. »Komm doch mit hinten raus. Ich halte mich nicht viel hier vorn im Haus auf.« Er schloss die Tür und ging den Flur entlang in Richtung Küche.
    Selbst beim oberflächlichsten Hinsehen erkannte man, dass die Hälfte der Möbel verschwunden war. Im Wohnzimmer standen ein Couchtisch, mehrere Beistelltischchen und ein hölzerner Stuhl mit hoher Lehne. Die

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