Kinsey Millhone 15 - Gefaehrliche Briefe O wie Opfer
angelaufen gekommen sein, um zu sehen, was ich trieb, und hatte dann der Chance auf Freiheit nicht wiederstehen können. Draußen angelangt, blieb sie stehen, erstaunt, sich zu dieser Stunde allein in der kalten Finsternis zu finden. Ich hörte einen dumpfen Schlag und einen laut widerhallenden Fluch. Der Kerl musste mit dem Fuß gegen einen Wasserzähler gelaufen und gestürzt sein. Ich konnte ihn zetern hören, während er sich aufrappelte und in lodernder Wut auf uns zugehumpelt kam. Wenn er Dorothy erwischte, würde er ihr den Hals umdrehen und sie über den Zaun werfen und sie damit zwingen, in wieder anderer Form in dieses Leben zurückzukehren. Ich packte sie am Schwanz und zerrte sie nach hinten, während sie darum rang, mit ausgestreckten Krallen auf dem Beton Halt zu finden. Unter lautstarken Protesten zog ich sie in die finstere Küche zurück, schloss die Tür und verriegelte sie zugleich.
Ich ließ mich auf den Fußboden sinken und drückte die Katze an mich, während mein Herz nicht aufhörte zu hämmern und mein Atem stoßweise kam. Ich hörte die klimpernden Schritte näher kommen und vor der Tür der Hatfields Halt machen. Der Kerl trat fest genug gegen die Tür, um sich selbst dabei weh zu tun. Er musste eine Taschenlampe dabei gehabt haben, weil schon bald ein Lichtstrahl über die gegenüberliegende Wand glitt und kurz den Küchentisch streifte. Der Lichtstrahl wanderte vor und zurück. Einmal hätte ich geschworen, dass er sich auf die Zehenspitzen stellte und versuchte, in die dunkle Ecke zu leuchten, wo ich kauerte. Unterdessen wehrte sich Dorothy gegen meine Umarmung und schaffte es schließlich, sich loszumachen. Ich hechtete ihr nach, doch sie entkam. Sie warf mir einen unwirschen Blick zu und tänzelte dann ausgerechnet aufs Esszimmer zu, so dass ihr Weg sie direkt durch seinen Lichtstrahl führte. Lange, verkrampfte Stille machte sich breit. Ich dachte, er würde die Tür eintreten, aber er musste es sich anders überlegt haben. Endlich hörte ich das Knirschen und Klingeln seiner Stiefel wieder, als sie über den Gang davongingen.
Ich sank gegen die Tür, entschlossen zu warten, bis ich hörte, wie er sein Motorrad anließ und mit Getöse in die Nacht fuhr. Doch dieses beruhigende Geräusch ertönte nicht. Schließlich kam ich stolpernd auf die Beine, packte die beiden Matchsäcke und kroch durchs Esszimmer aufs Gästezimmer zu. Das Nachtlicht im Flur beleuchtete meinen Weg. Die beiden anderen Schlafzimmertüren waren geschlossen. Offenbar hatten Cordia und Belmira den Lärm in der gnädigen Stille aller Schwerhörigen verschlafen. Im Gästezimmer angelangt, streifte ich die Schuhe ab und legte mich aufs Bett, immer noch in Mickeys Jacke. Dorothy lag bereits da. Das Kissen entpuppte sich als ihres, daher durfte ich es nur teilweise benutzen — bloß ein paar jämmerliche Zentimeter am Rand. Die immer noch gekränkte Katze verspürte nun den Drang, sich von Kopf bis Fuß zu waschen und sich nach der Beleidigung, so brutal am Schwanz gezogen zu werden, zu trösten. Die Vorhänge waren zugezogen, doch ich starrte sie zwanghaft an, voller Angst, eine Faust würde mit gewaltiger Wucht durch die Scheibe gedonnert kommen. Dorothys gleichmäßiges Lecken übte mit der Zeit eine beruhigende Wirkung aus. Meine Körperwärme setzte Mickeys Geruch aus dem Futter der Jacke frei. Zigarettenrauch und Aqua Velva. Ich hörte auf zu frösteln und schlief schließlich ein, während Dorothys zierliche Füßchen ordentlich in meinen Haaren ruhten.
Ich wachte von Kaffeeduft auf. Zwar trug ich nach wie vor Mickeys Jacke, aber irgendjemand hatte mir eine schwere Wolldecke über die Beine gelegt. Ich streckte eine Hand über den Kopf und betastete das Kissen, doch Dorothy war weg. Die Tür stand einen Spalt weit offen. Sonnenschein ließ die Vorhänge leuchten. Ich sah auf die Uhr und stellte fest, dass es kurz vor acht war. Ich schwang die Füße über die Bettkante und fuhr mir gähnend mit der Hand durchs Haar. Langsam wurde ich zu alt, um mich bis spät in die Nacht herumzutreiben. Ich ging ins Badezimmer und putzte mir die Zähne, dann duschte ich und zog mich wieder an. Schließlich sah ich wieder ungefähr so aus wie bei meiner Ankunft.
Belmira saß am Küchentisch und sah sich eine Talkshow an, als ich schließlich auftauchte. Sie war ein winziges Persönchen, ganz mager und so klein, dass ihre Füße kaum bis auf den Boden reichten. Heute trug sie eine weiße Schürze über einem rotweiß
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