Kinsey Millhone 15 - Gefaehrliche Briefe O wie Opfer
den Gang der Ereignisse zu verfolgen, und begrüßte nun ein Paar, das aus der dritten Wohnung auf dieser Seite kam. Beide schienen auf dem Weg zur Arbeit zu sein. Die Frau murmelte ihrem Mann etwas zu, und die beiden marschierten in Richtung Treppe. Mickeys Nachbar nickte höflich zu mir hin und gab damit zu verstehen, dass er mich wahrgenommen hatte.
»Hi, wie geht’s?«, murmelte ich.
»Gut, danke. Was ist denn das für ein Scheiß? Der Typ liegt im Koma, und die tauschen ihm das Schloss aus?«
»Ich schätze, die Eigentümer sind ziemlich kaltschnäuzig.«
»Müssen sie wohl«, meinte er. »Und wie geht’s Mickey? Sind Sie eine Freundin von ihm?«
»Das könnte man wohl sagen. Wir waren mal verheiratet.«
»Ist ja der Hammer. Wann denn?«
»Anfang der siebziger Jahre. Es hat nicht lange gehalten. Ich heiße übrigens Kinsey. Und Sie sind...«
»Ware Beason«, antwortete er. »Alle nennen mich Wary.« Er war immer noch damit beschäftigt, die Information über meine eheliche Verbindung mit Mickey zu verarbeiten. »Eine Exfrau? Nicht zu fassen. Er hat nie ein Wort erwähnt.«
»Wir hatten keinen Kontakt mehr. Und Sie? Kennen Sie ihn schon lange?«
»Mickey wohnt seit fast fünfzehn Jahren in dieser Wohnung. Ich bin seit sechs Jahren hier. Wenn ich ihm in Lionel’s Pub begegnet bin, haben wir ein paar Biere miteinander gekippt und gequatscht. Er hat meine Fische gefüttert, wenn wir auswärts ein Engagement hatten.«
»Sie sind Profimusiker?«
Ware zuckte verlegen die Achseln. »Ich spiele Keyboard in einer Combo. Die meisten Wochenenden hier in der Gegend, aber manchmal auch woanders. Außerdem bediene ich in dem vegetarischen Restaurant unten auf dem National. Sie haben ja sicher gehört, was passiert ist?«
»Schon, aber nur rein zufällig. Bis Anfang der Woche wusste ich nicht einmal, dass er in der Klemme sitzt. Ich bin aus Santa Teresa. Ich habe von dort aus versucht, ihn anzurufen, aber sein Telefon war abgemeldet. Ich habe mir erst nicht viel dabei gedacht, bis zwei Kriminalbeamte aufgetaucht sind und mir erzählt haben, dass er angeschossen wurde. Ich war ganz entsetzt.«
»Ja, ich auch. Sie haben offenbar eine Weile gebraucht, bis sie herausgefunden haben, wer er ist. Bei mir haben sie um sieben Uhr morgens auf der Matte gestanden. Am Montag. Ein massiger Dunkelhaariger?«
»Genau. Mit dem habe ich auch gesprochen. Ich dachte, ich fahre lieber mal her, falls ich irgendwas tun kann.«
»Und wie geht’s ihm? Haben Sie ihn gesehen?«
»Tja, er liegt noch im Koma, daher ist es schwer zu sagen. Ich war gestern dort, und er sah nicht besonders gut aus.«
»Verdammt. Das ist ein Jammer. Eigentlich sollte ich selbst hingehen, aber ich schieb’s ständig auf.«
»Die Mühe können Sie sich sparen, es sei denn, Sie verständigen die Polizei. Sie dürfen ihn nur mit deren Erlaubnis besuchen, und sie schicken jemanden mit, für den Fall, dass Sie den Stecker rausziehen wollen.«
»Herrgott. Der arme Kerl. Ich fass es nicht.«
»Geht mir genauso«, sagte ich. »Übrigens, was war denn das für ein Getöse letzte Nacht? Haben Sie das gehört? Es klang, als sei jemand durchgedreht und hätte angefangen, gegen die Wände zu schlagen.«
»He, echt der Hammer. Der hat mich tierisch angebrüllt. Und schauen Sie bloß, was er gemacht hat — mit der Faust die Scheibe eingeschlagen. Ich dachte, er würde gleich hinterher gehechtet kommen, aber er ist verschwunden.«
»Weshalb war er denn so wütend?«
»Wer weiß? Er ist ein Kumpel von Mickey, oder zumindest tut er so. Mickey wirkte nie besonders froh, ihn zu sehen.«
»So ein Verrückter«, sagte ich. »Wie oft ist er denn aufgetaucht?«
»Alle zwei Wochen. Sie müssen irgendwas am Laufen gehabt haben, aber ich kann mir nicht denken, was.«
»Wie lang ging das so?«
»Vielleicht zwei, drei Monate. Vermutlich sollte ich mal so sagen: Vorher hatte ich ihn nie gesehen.«
»Wissen Sie seinen Namen?«
Wary schüttelte den Kopf. »Nee. Mickey hat uns nie bekannt gemacht. Es schien ihm peinlich zu sein, mit dem Typen gesehen zu werden, und das kann man ja auch verstehen.«
»Echt der Hammer.«
»Der Typ ist ein Fiesling, ein richtiger Ganove. Jedes Mal, wenn ich mir diese Sendung über die meistgesuchten Verbrecher Amerikas anschaue, warte ich auf seine Visage.«
»Tatsächlich? Sie meinen, er wird polizeilich gesucht?«
»Wenn nicht jetzt, dann bald.«
»Das ist ja seltsam. Mickey hatte seit jeher eine Abneigung gegen zwielichtige Typen. Er
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