Kinsey Millhone 15 - Gefaehrliche Briefe O wie Opfer
gesehen hat, wie er das Haus verließ.«
»Was ist Ihre Theorie?«
»Tja, gehen wir mal spaßeshalber davon aus, dass er bei jemand anders im Auto saß. Sie steigen aus, um essen oder etwas trinken zu gehen, und bleiben bis zur Sperrstunde. Um zwei Uhr morgens fahren sie zurück nach Culver City. Er...«
»Oder sie«, warf ich schnell ein.
Wary lächelte. »Also... der Schütze hätte Mickey an der Ecke abgesetzt haben und dann einen Block weitergefahren sein können, als machte er sich auf den Heimweg. Der Schütze parkt und wartet in der Dunkelheit, bis Mickey den Block dazwischen zurückgelegt hat. Sowie er auf seine Höhe kommt, verlässt er den Wagen und — peng — verpasst ihm zwei Kugeln. Der Schütze wirft die Waffe weg und haut ab, bevor irgendjemand begreift, was los ist.«
»Glauben Sie wirklich, dass es so passiert ist?«
Wary zuckte die Achseln. »Denkbar wär’s. Weiter behaupte ich ja nichts. Die Bullen haben sämtliche Lokale und Billardsalons im Umkreis von zehn Blocks abgegrast. Mickey war in keinem davon gewesen, aber sie wissen, dass er irgendwo getrunken haben muss, weil er einen Alkoholspiegel von 1,4 Promille hatte.«
»Wo haben Sie denn das gehört?«
»Dieser Detective, der dunkle, hat es nebenbei erwähnt.«
»Tatsächlich. Das ist ja interessant. Was haben sie daraus geschlossen? Hat jemand was gesagt?«
»Nein, und ich bin auch nicht auf die Idee gekommen, danach zu fragen. Mickey war ständig angesäuselt. Vermutlich lag sein Pegel jeden Tag konstant bei 0,8.«
»Er war Alkoholiker im Sinne des Gesetzes?«
»Säufer im Sinne des Gesetzes wäre besser formuliert. Eine Zeit lang hat er sich zusammengerissen. Er hörte auf zu trinken, aber das war nicht von Dauer. Im Februar hat er tagelang durchgesoffen, und ich schätze, deshalb haben sie ihn auch aus seinem Job gefeuert. Danach versuchte er sich zu fangen, aber ohne großen Erfolg. Er hielt es immer ein paar Tage lang durch und hatte dann wieder einen Rückfall. Ich muss ihm aber eines lassen: Er hat es versucht. Er war nur nicht stark genug, um es allein durchzustehen.«
Auf einmal wurde ich ruhelos und brauchte Bewegung. Ich begann weiterzugehen, und Wary folgte mir, bis er auf meiner Höhe war. »Was ist mit der Frau, mit der er sich getroffen hat?«, fragte ich.
Er warf mir einen schiefen Blick zu, der zu gleichen Teilen Erstaunen und Verlegenheit ausdrückte. »Woher wissen Sie von ihr?«
Ich tippte mir an die Schläfe. »Ein kleines Vögelchen hat’s mir erzählt. Wissen Sie, wer sie war?«
»Nee. Hab’ sie nie kennen gelernt. Dafür hat Mickey gesorgt.«
»Wie das?«
»Vielleicht glaubte er, ich würde meinerseits versuchen, sie anzumachen.«
»Haben Sie sie je richtig gesehen?«
»Im Vorübergehen. Nicht so, dass ich sie wiedererkennen würde. Sie ist immer über die Hintertreppe raufgekommen und gleich reingegangen.«
»Sie hatte einen eigenen Schlüssel?«
»Muss wohl. Mickey hat seine Türen nie unversperrt gelassen. Manchmal ist sie aufgetaucht, bevor er von der Arbeit nach Hause kam.«
»Was ist mit ihrem Wagen? Haben Sie je ein Auto hinter dem Haus stehen sehen?«
»Ich hab’ nie drauf geachtet. Ich fand, das war seine Sache. Warum sollte ich mich einmischen?«
»Wie oft war sie hier?
»Ich schätze mal alle zwei bis drei Wochen. Ich möchte zwar nicht geschmacklos werden, aber die Wände bei uns im Haus sind alles andere als schalldicht. Und ich muss sagen, dass Mickeys Alkoholkonsum ihn offenbar nie bei der Erfüllung seiner Pflichten beeinträchtigt hat.«
»Woher wissen Sie, dass er es war? Wäre es nicht denkbar, dass er seine Wohnung jemand anders geliehen hat? Vielleicht hatte er einen Freund, der einen Schlupfwinkel brauchte, wo er sich vergnügen konnte.«
»O nein. Das war er. Darauf würde ich einen Eid schwören. Er ist seit mindestens einem Jahr mit dieser Frau zusammen.«
»Woher wollen Sie wissen, dass es nur eine war? Er hätte ja eine ganze Reihe haben können.«
»Tja, möglich wäre das wohl schon.«
»Wäre es vorstellbar, dass sie im selben Haus wohnt?«
»In diesem Haus? Das glaube ich nicht. Mickey hätte sich von einer Frau, die so dicht bei ihm wohnt, eingeengt gefühlt. Er liebte seine Freiheit. Er mochte es nicht, wenn ihn irgendjemand kontrollierte. Zum Beispiel manchmal... da war er einfach übers Wochenende verschwunden. Ich hab’ ihn dann ab und zu gefragt: >Wie war dein Wochenende, wo hast du gesteckt.^ So ganz simple Fragen. Aber Mickey hat keine Fragen
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