Kinsey Millhone 15 - Gefaehrliche Briefe O wie Opfer
siebenundzwanzigsten März. Und zwar am frühen Nachmittag, kurz vor halb zwei oder so. Ich habe die Telefonrechnung selbst gesehen.«
»Da warst du mit mir unterwegs«, sagte er unvermittelt.
»Ist das wahr?«
»Natürlich. Das war der Tag nach dem Erdbeben, bei dem mir die Dosen aufs Auto gefallen sind. Ich habe die Versicherung angerufen, und du bist mir zur Werkstatt nachgefahren. Der Schadensbearbeiter hat uns dort erwartet.«
»Das war an diesem Tag? Wie kannst du dich daran erinnern?«
»Ich habe den Kostenvoranschlag bei mir«, erklärte er und zog ihn aus der Tasche. »Das Datum steht darauf.«
Blitzartig stellte sich die Erinnerung an den Tag wieder ein. In den frühen Morgenstunden des siebenundzwanzigsten März hatte es eine Serie von Erschütterungen gegeben, eine Reihe von Beben, so lautstark, wie wenn eine Herde Pferde durchs Zimmer donnert. Ich war aus dem Tiefschlaf hochgeschreckt, weil mein Bett wackelte. Die hell erleuchteten Ziffern auf meinem Digitalwecker zeigten zwei Uhr sechs an. Kleiderbügel klapperten, und sämtliches Fensterglas klirrte, als klopfte draußen jemand um Einlass. Ich war sofort aus dem Bett gesprungen und in Jogginganzug und Turnschuhe geschlüpft. Binnen Sekunden war dieses Erdbeben vorbei, nur um von einem zweiten gefolgt zu werden. Ich hörte im Spülbecken Glas zerbrechen. Die Wände hatten unter der Belastung durch die schaukelnde Bewegung zu knarren begonnen. Irgendwo am anderen Ende der Stadt explodierte ein Transformator, und ich saß im Finstern.
Ich hatte meine Umhängetasche gepackt und mich die Wendeltreppe hinabgetastet, während ich in der Tasche nach meiner Taschenlampe wühlte. Ich fand sie und schaltete sie ein. Der Lichtstrahl war bleich, doch er erhellte meinen Weg. In der Ferne konnte ich hören, wie Sirenen zu jaulen begannen. Das Beben ließ nach. Ich nutzte den Moment, um meine Jeansjacke zu greifen und das Haus zu verlassen. Henry kam bereits über den Innenhof auf mich zu. Er hielt eine Taschenlampe von den Ausmaßen eines Ghettoblasters in der Hand und leuchtete mir damit ins Gesicht. Die nächste Stunde verbrachten wir aneinandergekauert im Garten, voller Angst davor, wieder hineinzugehen, bis wir uns in Sicherheit wähnen konnten. Am nächsten Morgen hatte er den Schaden an seinem fünffenstrigen Coupé bemerkt.
Ich fuhr ihm zur Autowerkstatt nach und brachte ihn hinterher nach Hause. Als ich in meine Wohnung zurückkehrte, blinkte das Licht an meinem Anrufbeantworter. Ich drückte den Abspielknopf, doch es ertönte nichts als ein langes Rauschen, das bis zum Ende des Bandes reichte. Ich war leicht verärgert, nahm aber an, dass es ein Dummejungenstreich gewesen war, und ließ die Sache auf sich beruhen. Henry hatte neben mir gestanden und dasselbe gehört wie ich. Er vermutete einen Funktionsfehler, nachdem der Strom wieder eingesetzt hatte. Ich hatte das Band zurückgespult, um das Rauschen zu löschen, und nicht weiter darüber nachgedacht. Bis jetzt.
16
Gleich als ich nach Hause kam, rief ich bei Detective Aldo an, da ich in diesem geringfügigen Detail meine Unschuld beweisen wollte. Sowie er den Hörer abnahm und sich meldete, quasselte ich los. »Hi, Detective Aldo. Hier ist Kinsey Millhone aus Santa Teresa...« Die kleine Miss Freundlich, die nett zu den Polizisten sein möchte.
Ich hatte gerade zu meiner Erklärung des Anrufs im März angesetzt, als er mich unterbrach. »Ich versuche schon seit Tagen, Sie zu erreichen«, sagte er kurz angebunden. »Und zwar, um Sie zu verwarnen. Ich weiß ganz genau, dass Sie eine Tatortabsperrung verletzt und diese Wohnung betreten haben. Ich kann es zwar im Moment nicht belegen, aber wenn ich auch nur ein Fitzelchen eines Beweises finde, klagen wir Sie unter Paragraph 135 an — mutwillige Zerstörung oder Unterschlagung von Beweisen — und unter Paragraph 148, bei dem es — falls Sie das nicht präsent haben — um Widerstand gegen einen Polizeibeamten in Ausübung seiner Pflichten geht, was mit einer Geldstrafe nicht über tausend Dollar oder Haft in einem Bezirksgefängnis nicht über einem Jahr oder auch beidem strafbar ist. Haben Sie das kapiert?«
Ich hatte gerade erst den Mund zu meiner Verteidigung geöffnet, als er den Hörer aufknallte. Ich drückte an meinem Ende auf die Gabel, und als ich meinerseits den Hörer auflegte, war mein Mund so trocken wie Sand. Schuldgefühle und Verlegenheit wallten mit derartiger Wucht in mir auf, dass ich schon glaubte, verfrüht in die
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