Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kinsey Millhone 15 - Gefaehrliche Briefe O wie Opfer

Kinsey Millhone 15 - Gefaehrliche Briefe O wie Opfer

Titel: Kinsey Millhone 15 - Gefaehrliche Briefe O wie Opfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sue Grafton
Vom Netzwerk:
schweigsam, grüblerisch und ein bisschen gefährlich. Seine Augen waren hell und lagen nahe beieinander. Er trug Schnurrbart und Ziegenbart, was beides zu seinem ans Schäbige grenzenden Look beitrug. Er trug eine weite khakifarbene Jacke und eine enge schwarze Strickmütze. Ein Streifen aus hellen Haaren reichte bis weit über seinen Kragen. Seine Haltung strahlte eine gewisse Abgeklärtheit aus; es hing irgendwie mit den hochgezogenen Schultern und dem milden, wissenden Lächeln zusammen, das über sein Gesicht zog.
    Tim Littenberg trat aus dem rückwärtigen Korridor und blieb in der Tür stehen, während er seine Manschetten zurechtzog. Die beiden, der Jointraucher und der Kneipenbesitzer, ignorierten einander mit einer Beiläufigkeit, die in meinen Augen vorgetäuscht wirkte. Ihr Verhalten erinnerte mich an jene Gelegenheiten, wo sich ein ehebrecherisches Pärchen bei einem gesellschaftlichen Anlass begegnet. Unter dem aufmerksamem Blick ihres jeweiligen Ehepartners vermeiden sie absichtlich jeden Kontakt und tun damit ihre Unschuld kund — oder zumindest bilden sie sich das ein. Das einzige Problem ist die Aura geschärften Bewusstseins, die dem Theater zu Grunde liegt. Jeder, der einen von beiden kennt, bemerkt das Versteckspiel. Zwischen dem Mann in der Nische und Tim Littenberg bestand ein unübersehbarer Anstrich von Befangenheit. Alle beide schienen die schwarzhaarige Kellnerin zu beobachten, die sich wiederum ihrer genau bewusst zu sein schien.
    Binnen Minuten hatte sie ihre Runde gedreht und war an der Nische angekommen. Tim ging davon, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Der Typ mit dem Joint stützte sich auf den Ellbogen nach vorn. Er streckte einen Arm aus und legte ihr eine Hand auf die Hüfte. Dann bedeutete er ihr, sich zu setzen. Sie rutschte ihm gegenüber auf die Bank, ihr Tablett zwischen ihnen, als sollten ihn die leeren Gläser daran erinnern, dass sie anderes zu tun hatte. Er nahm ihre freie Hand und begann ernsthaft auf sie einzureden. Ich konnte ihr Gesicht nicht sehen, aber von meiner Position aus kam sie mir weder gelassen noch über seine Mitteilung erfreut vor.
    »Kennen Sie den Mann?«, sagte eine Stimme in mein rechtes Ohr.
    Ich drehte mich um und stellte fest, dass Tim dicht hinter mir stand. Seine Worte klangen vor dem Hintergrund aus lauter Musik und schrillen Stimmen erstaunlich intim. Ich fragte: »Wen?«
    »Den Mann, den Sie beobachten, der in der Nische da drüben sitzt.«
    »Er kommt mir bekannt vor«, erwiderte ich. »Aber in erster Linie hab ich überlegt, wo die Toiletten sind.«
    »Aha.«
    Verstohlen warf ich ihm einen Blick zu und sah dann in die andere Richtung, um die Intensität, mit der er mich fixierte, abzuschwächen. Er sagte: »Erinnern Sie sich an Mickeys Freund Shack?«
    »Klar. Mit dem hab ich Anfang der Woche gesprochen.«
    »Das ist sein Sohn Scottie. Die Bedienung ist seine Freundin Thea. Falls es Sie interessiert«, fügte er mit einem Hauch Ironie hinzu.
    »Kaum zu glauben. Das ist Scott? Kein Wunder, dass er mir bekannt vorkam. Ich habe Fotos von ihm gesehen. Sie sind immer noch befreundet?«
    »Natürlich. Ich kenne Scott seit Jahren. Ich mag eigentlich keine Drogen in meinem Lokal, aber ich will kein Theater machen, also ignoriere ich ihn, wenn er einen Joint raucht.«
    »Ah.«
    »Es erstaunt mich, dass Sie wiedergekommen sind. Suchen Sie jemand Bestimmten, oder nehmen Sie auch mit mir vorlieb?«
    »Ich hatte gehofft, Mickey zu begegnen. Das hab’ ich Ihnen gestern schon gesagt.«
    »Stimmt, das haben Sie. Darf ich Sie auf einen Drink einladen?«
    »Vielleicht, wenn ich mit diesem hier fertig bin. Im Moment habe ich alles, was ich brauche.«
    Er fasste herüber, nahm mir das Bierglas aus der Hand und trank einen Schluck. »Das ist warm. Ich besorge Ihnen ein frisches in einem eiskalten Krug.« Er fing den Blick des Barkeepers ein, hob das Glas und signalisierte so, dass er ein neues einschenken solle. Tim trug einen dunkelblauen Anzug mit einem ochsenblutroten Hemd. Seine Krawatte hatte ein Muster aus diagonalen Gabelbeinen in Blau und Rot auf einem hellblauen Hintergrund. Die moschusartige Würze seines Aftershaves durchdrang die Luft zwischen uns. Seine Pupillen waren stecknadelgroß, und seine Haut glänzte. Anstatt ruhelos und unkonzentriert zu wirken, gab er sich heute Abend bedächtig, und jede Geste war überlegt, als bahnte er sich den Weg durch Schlamm. So, so, so. Was führte er im Schilde? Ein leises Prickeln der Angst lief mir über

Weitere Kostenlose Bücher