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Kinsey Millhone 15 - Gefaehrliche Briefe O wie Opfer

Kinsey Millhone 15 - Gefaehrliche Briefe O wie Opfer

Titel: Kinsey Millhone 15 - Gefaehrliche Briefe O wie Opfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sue Grafton
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jetzt wünschte ich, ich wäre zu Hause geblieben. Ich hätte mich umgedreht und wäre geflüchtet — wenn Mickey nicht sechs Freitage hintereinander hier gewesen wäre, bevor er sich gezwungen sah, sein Auto zu verkaufen. Ich konnte mir nicht vorstellen, was er hier gemacht hatte. Vielleicht hatte er Drinks gezählt, Tims Profite überschlagen und seinen Gewinnanteil ausgerechnet. Vielleicht hatte Tim auf Arm gemacht und behauptet, er verdiene nicht genug Geld, um den Kredit zurückzuzahlen. Falls Tims Barkeeper die Hand in die Kasse steckte, konnte dies durchaus stimmen. Barkeeper haben ihre kleinen Tricks, aber ein erfahrener Ermittler bringt es fertig, an der Bar zu sitzen, mit anderen Gästen zu plaudern und gleichzeitig eine Geschäftsprüfung nach Augenschein vorzunehmen. Falls der Barmann etwas abschöpfte, so wäre es in Mickeys Interesse gewesen, seine Machenschaften zu ergründen und ihn zu verpfeifen. Es war aber auch vorstellbar, dass Mickeys Anwesenheit auf andere Gründe zurückging — eine Frau zum Beispiel oder das Bedürfnis, seiner finanziellen Misere in L.A. zu entkommen. Allerdings braucht ein schwerer Trinker im Grunde keine Entschuldigung, um irgendwo eine Kneipe aufzusuchen.
    Ich verschaffte mir wie gewohnt einen ersten Überblick. Sämtliche Tische waren voll besetzt, in den Nischen hätten sich manchmal vier Gäste auf eine Bank gedrängt. Der Teil der Tanzfläche, den ich von meinem Standort aus sehen konnte, war so dicht mit sich bewegenden Leibern gefüllt, dass dazwischen kaum noch Luft war. Tim konnte ich nirgends sehen, doch ich erspähte die schwarzhaarige Kellnerin, die sich vor mir durch die Menge schob. Sie hielt ihr Tablett hoch und balancierte die leeren Gläser oberhalb der Reichweite rempelnder Gäste. Sie trug eine schwarze Lederweste mit nichts darunter, ihre Arme waren lang und nackt, und der V-Ausschnitt des Kleidungsstücks enthüllte ebenso viel, wie er verbarg. Das unechte Schwarz ihres Haares bildete einen scharfen Kontrast zur milchigen Blässe ihres Teints. Ein dunkler Strich Lippenstift ließ ihren Mund grimmig wirken. Sie beugte sich zum Barkeeper vor und rief ihm über das allgemeine Getöse ihre Bestellung zu.
    Es gibt ein Phänomen, das mir bei Fahrten auf dem Highway aufgefallen ist. Wenn man sich umdreht und einen anderen Fahrer ansieht, drehte er sich auch um und sieht einen an. Vielleicht ist dieser Instinkt aus grauer Vorzeit übrig geblieben, wo man als Objekt eines scharfen Blicks noch fürchten musste, womöglich getötet und aufgefressen zu werden. Hier passierte es wieder. Kurz nachdem ich sie entdeckt hatte, drehte sie sich instinktiv um und fing meinen Blick auf. Ihr Blick sank auf Mickeys Lederjacke. Ich wandte meine Aufmerksamkeit ab, jedoch nicht ohne zu bemerken, dass ihr Gesichtsausdruck sich verändert hatte.
    Danach ging ich ihr absichtlich aus dem Weg und konzentrierte mich stattdessen auf das, was in der Nähe vor sich ging. Immer wieder stieg mir ein Schwaden Marihuana in die Nase, den ich aber nicht zu seiner Quelle zurückverfolgen konnte. Ich begann die Hände der Umstehenden zu mustern, da Kiffer einen Joint meistens anders halten als eine normale Zigarette. Der durchschnittliche Raucher steckt seine Zigarette in ein V, das aus Zeige- und Mittelfinger gebildet wird, und führt die Zigarette mit offener Handfläche zum Mund. Ein Kiffer formt aus Daumen und Zeigefinger einen Kreis, in dessen Mitte der Joint gehalten wird, und spreizt die anderen Finger um ihn herum, so dass die Handfläche einen Schutz um den brennenden Joint bildet. Ob dies dazu dienen soll, den Dope vor Wind oder dem Blick der Öffentlichkeit abzuschirmen, habe ich nie herausfinden können. Die Zeiten, als ich selbst noch Dope geraucht habe, liegen lange zurück, doch die zeremoniellen Aspekte scheinen bis heute gleich geblieben zu sein. Ich habe schon gesehen, wie Kiffer nach einem Joint fragen, indem sie einfach diesen Kreis formen und ihn an die Lippen drücken, eine Geste, die besagt: »Sollen wir ein bisschen Cannabis rauchen, mein Freund?«
    Ich begann die Bar zu umkreisen, indem ich lässig von einem Tisch zum anderen ging, bis ich den Typ mit dem Joint zwischen den Lippen entdeckte. Er saß allein in einer Nische am anderen Ende des Raums, gleich neben dem Flur, der zu den Telefonen und Toiletten führte. Er war Mitte dreißig und kam mir mit seinem langen, hageren Gesicht vage bekannt vor. Er war ein Typ, wie ich ihn mit Zwanzig attraktiv gefunden hätte:

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