Kinsey Millhone 15 - Gefaehrliche Briefe O wie Opfer
warum er sich nicht bei ihr gemeldet hatte. Es war nicht schwer, sich auszumalen, dass sie irgendwie aufgebracht war. Niemand verhält sich so irrational wie eine Frau, die sexuelle Abenteuer sucht. Sie mochte zwar die Gelegenheit ergreifen, ihren festen Freund zu betrügen, aber wehe dem Mann, der es wagte, sie zu hintergehen. Angesichts dessen, dass Mickeys Telefon gesperrt war, musste sie nach L.A. gefahren sein, um ihre persönlichen Gegenstände aus der Wohnung zu holen. Auf jeden Fall hatte sie nicht gern gehört, dass er und ich zusammen waren. Ich fragte mich, wie Scottie Shackelford es aufnehmen würde, wenn er erfuhr, dass sie mit Mickey vögelte. Aber womöglich wusste er es sogar. Wenn ja, so fragte ich mich, ob er eventuell Schritte unternommen hatte, um der Sache ein Ende zu machen.
17
Ich trat aus der Damentoilette, blieb in der Tür zum Fokal stehen und blickte nach links. Scott Shackelford saß nicht mehr in der Nische. Ich entdeckte ihn an der Bar, wo er mit Charlie, dem Barkeeper, plauderte. Langsam lichtete sich die Menschenmenge. Die Band hatte schon lange zusammengepackt und war gegangen. Es war fast Viertel vor zwei, und die Typen, die noch jemanden abschleppen wollten, waren gezwungen, sich auf die wenigen übrig gebliebenen Singlefrauen zu konzentrieren. Die Kellner luden schmutzige Gläser in Plastikbehälter. Thea stand jetzt mit Scott an der Bar und zählte mit Hilfe eines Taschenrechners ihre Trinkgelder zusammen. Ich zog den Reißverschluss von Mickeys Jacke hoch. Als ich mir den Weg zum Ausgang bahnte, wurde mir bewusst, dass mich Thea beobachtete.
Die kalte Luft war nach der verrauchten Enge der Kneipe ein Genuss. Ich roch Kiefernnadeln und Lehm. Die Hauptstraße von Colgate lag verlassen da, weil sämtliche benachbarten Geschäfte schon lange geschlossen hatten. Auf dem Weg zu meinem Auto ging ich quer über den Parkplatz, die Hände in die Taschen meiner Jeans gesteckt und den Gurt meiner Umhängetasche über der rechten Schulter. Straßenlampen sprenkelten den Asphalt mit bleichen Lichtkreisen und betonten die Finsternis außerhalb ihrer Reichweite. Irgendwo hinter mir hörte ich das tiefe Röhren eines Motorrads. Ich sah gerade rechtzeitig über die Schulter, um einen Mann auf einem Motorrad in die Gasse hinter dem Lokal biegen zu sehen. Ich starrte ihm nach, ging ein Stück zurück und fragte mich, ob mich meine Augen trogen. Ich hatte ihn nur ganz kurz gesehen, aber ich hätte schwören können, dass es derselbe Typ war, der Mittwochnacht bei Mickey aufgetaucht war. Während ich noch hinsah, machte er den Motor aus und begann, nach wie vor im Sattel sitzend, seine Maschine auf die Mülltonnen zuzurollen. Fahles Licht, das aus dem Hinterausgang kam, schien auf sein maisgelbes Haar und ließ den Chrom seines Motorrads schimmern. Mit einem gestiefelten Fuß klappte er den Ständer herunter und hob das Motorrad rückwärts darauf. Er sperrte es ab, stieg herunter und ging mit schnellen Schritten und offen flatternder Jacke um das Gebäude herum auf den Vordereingang zu. Der Körperbau war der gleiche: groß, mager, mit breiten, knochigen Schultern und einem eingesunken wirkenden Brustkorb.
Wie ein Hund trottete ich hinter ihm her. An der Ecke angekommen, verlangsamte ich meinen Schritt, um ihm nicht zu begegnen. Offenbar war er aber bereits im Lokal verschwunden. Der Türsteher sah mich und blickte mit theatralischem Nachdruck auf die Uhr. Er war Mitte dreißig, hatte schütteres Haar, einen dicken Bauch und trug ein Sakko, das eng um Schultern und Arme anlag. Ich zeigte ihm den Stempel auf meinem Handrücken, um zu beweisen, dass ich bereits die Zugangsberechtigung erhalten hatte. »Ich hab was vergessen«, sagte ich. »Kann ich ganz kurz noch mal reingehen?«
»Tut mir Leid, Lady. Wir haben geschlossen.«
»Es ist doch erst zehn vor zwei. Es sind noch massenhaft Leute drinnen. Fünf Minuten. Ich schwör’s.«
»Letzte Bestellung war um halb zwei. Nix zu machen.«
»Ich will doch gar nichts trinken. Ich hab’ nur was drinnen liegen lassen. Es dauert nur zwei Minuten, dann bin ich wieder draußen. Bitte, bitte, bitte.« Ich presste die Knie zusammen und faltete die Hände wie ein Kind beim Gebet.
Ich sah, wie er sich ein Schmunzeln verkniff. Dann winkte er mich mit nachsichtigem Augenrollen hinein. Es ist verblüffend, wie weit man bei Männern kommt, indem man eine Klein-Mädchen-Schau abzieht. Ich blieb stehen und blickte zu ihm zurück, als wäre mir die Frage gerade
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