Kinsey Millhone 17 - Totenstille - Q wie Quittung
ihr.«
»Das ist mein Lieblingsbild. Ich habe eines nachmachen lassen, also kannst du das hier behalten.«
»Danke. Gibt’s auch Bilder von meinem Vater?«
»Bestimmt. Wenn ich daran gedacht hätte, hätte ich das Familienalbum mitbringen können. Da haben wir jeden drin. Vielleicht nächstes Mal«, sagte sie. »Weißt du, du siehst deiner Mutter sehr ähnlich, aber ich ja auch.«
Ich sagte: »Tatsächlich«, aber ich dachte: Das ist ja alles komplett verrückt. Bei Tasha war es mir leicht gefallen, sie auf sichere Distanz zu halten. Wir beharkten uns mit Worten und schufen einen bequemen Abstand zwischen uns. Diese Frau hier war reizend. Für zehn Cents wäre ich um den Schreibtisch herumgesaust und hätte mich auf ihren Schoß gekuschelt. Stattdessen sagte ich: »Soweit ich gehört habe, sehen sich alle Kinsey-Frauen ähnlich.«
»Weniger die Kinseys als vielmehr die LeGrands. Virginia hatte ein paar Gesichtszüge von ihrem Daddy, aber sie war die absolute Ausnahme. Grands Züge dominieren. Ist ja auch kein Wunder, nachdem sie auch überall sonst dominiert.«
»Warum nennst du sie Grand?«
Sie lachte. »Ich weiß nicht. Wir nennen sie so, seit ich denken kann. Sie wollte nicht ›Mummy‹ oder ›Mommy‹ oder so genannt werden. Ihr war der Spitzname lieber, den sie schon immer gehabt hat, und wir sind damit aufgewachsen. Als wir in die Schule gekommen sind, ist mir bewusst geworden, dass andere Kinder ihre Mütter ›Mama‹ oder ›Mom‹ nennen, aber damals hätte es schon seltsam gewirkt, sie so anzusprechen. Vielleicht war es von ihrer Seite aus eine Form von Verdrängung – gemischte Gefühle angesichts ihrer Mutterschaft. Ich weiß es nicht genau.«
Kaffeegeruch durchdrang die Luft. Ich verließ den Raum nur ungern, doch ich stand auf und ging um den Schreibtisch herum. »Ich bin gleich wieder da.«
»Soll ich was helfen?«
»Nein, danke.«
»Ruf einfach, wenn du mich brauchst.«
»Danke.«
Wieder in der Küche machte ich alles ganz mechanisch, doch ich merkte, dass ich beim Eingießen des Kaffees beide Hände brauchte. Wie sollte ich ihr den Becher reichen, ohne ihr Kaffee auf den Rock zu schütten? Ich holte tief Luft und verabreichte mir mentale Ohrfeigen. Das war ja lächerlich, wie ich mich aufführte. Sie war praktisch eine Wildfremde, eine Frau mittleren Alters auf Gefälligkeitsmission. Das schaffte ich doch. Damit kam ich klar. Ich würde mich jetzt einfach mit ihr auseinander setzen und die Folgen später ausbaden, wenn ich wieder allein war. Okay. Also nahm ich die beiden Becher und konzentrierte meinen Blick beim Gehen auf den Kaffee. Ich verschüttete gar nicht mal so viel, und der Teppich war dermaßen hässlich, dass man es ohnehin nicht sah.
Im Büro angelangt, stellte ich beide Becher auf den Schreibtisch und ließ sie sich ihren selbst nehmen. Ich setzte mich wieder und griff nach meinem Becher, indem ich ihn über die Tischplatte zu mir herzog. Kurz überlegte ich, ob ich mich einfach bücken und den Kaffee herausschlürfen könnte, anstatt mir das Gefäß an die Lippen zu heben. »Darf ich dich was fragen?«
»Aber sicher, Schätzchen. Was willst du denn wissen?«
Sch ätzchen. Ach herrje. Nun kamen die Tränen, doch ich blinzelte sie weg. Susanna schien nichts zu bemerken. Ich räusperte mich und sagte: »Liza hat bei unserem ersten Treffen von Neffen gesprochen, nur habe ich weiter nichts über sie gehört. Arne Johanson hat mir erzählt, dass Grand drei Söhne hatte, die alle tot zur Welt gekommen sind, aber gab es nicht auch einen Jungen, der als Säugling gestorben ist? Ich dachte, Liza hätte so was erwähnt.«
Sie machte diese abwehrende Geste, die mir so vertraut war. Ich hatte sie selbst schon benutzt, genau wie meine Cousine Liza an dem Tag, als wir uns getroffen hatten. »Das bringt sie immer durcheinander. Ehrlich, Familiengeschichte ist nicht ihre Stärke. Theoretisch stimmt es allerdings. Unsere Mutter hat drei Jungen bekommen, bevor Rita zur Welt gekommen ist. Die ersten beiden waren Totgeburten. Der dritte ist fünf Stunden am Leben geblieben. Und sämtliche anderen Jungen in der Familie – neun Neffen – gehören zum weiteren Kreis. Mauras Mann Walter hat zwei Schwestern, und die haben beide Jungen. Und mein Mann John hat drei Brüder, die es auf insgesamt sieben Jungen gebracht haben. Ich weiß, es ist verwirrend, aber weil die meisten dieser entfernteren Verwandten auch in Lompoc wohnen, werden sie zu allen Kinsey-Feierlichkeiten eingeladen. Grand
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