Kinsey Millhone 17 - Totenstille - Q wie Quittung
Schultern. Hinter einem Ohr trug sie eine weiße Blüte, genau wie Susanna, die sanft von den Armen meiner Mutter umfangen wurde. Es hatte den Anschein, als flüstere meine Mutter ihr ein Geheimnis zu, das beiden gefiel. Susannas Gesicht wandte sich ihrem mit einem Blick zu, aus dem unerwartete Freude sprach. Ich konnte die Umarmung fast spüren, die gefolgt sein musste, als das Bild gemacht war.
Ich stellte den Rahmen auf den Schreibtisch und lehnte mich mit den Füßen auf der Tischplatte auf meinem Stuhl zurück. Mir fielen verschiedene Dinge ein, an die ich zuvor nicht gedacht hatte. Ich war jetzt doppelt so alt wie meine Mutter an dem Tag, als das Bild aufgenommen worden war. Vier Monate nach diesem Datum waren meine Eltern verheiratet gewesen, und als meine Mutter in meinem Alter war, hatte sie eine dreijährige Tochter. Ab da hatten meine Eltern nur noch zwei Jahre zu leben. Ich musste daran denken, dass meine Mutter jetzt siebzig wäre, wenn sie überlebt hätte. Ich versuchte mir vorzustellen, wie es wäre, eine Mutter in meinem Leben zu haben – die Anrufe, die Besuche, die Einkaufsbummel und die Feiertagsrituale, die mir so fremd waren. Ich hatte mich gegen die Kinseys gesperrt und war der Vorstellung eines dauerhaften Kontakts nicht nur ablehnend, sondern feindselig gegenübergestanden. Jetzt fragte ich mich, warum mir das Angebot schlichten Trosts so bedrohlich erschien. War denn undenkbar, dass ich über die beiden noch lebenden Schwestern meiner Mutter eine Verbindung zu ihr herstellen konnte? Bestimmt hatten Maura und Susanna viele Züge mit ihr gemeinsam – Gesten und Formulierungen, Werte und Einstellungen, die sie von Geburt an verinnerlicht hatten. Obwohl meine Mutter nicht mehr da war, konnte ich doch vielleicht einen kleinen Bruchteil ihrer Liebe über meine Cousinen und Tanten erfahren? Es schien mir nicht zu viel verlangt zu sein, obwohl mir immer noch nicht klar war, welchen Preis ich dafür zu bezahlen hätte. Ich schloss das Büro schon früh ab und ließ das Foto meiner Mutter mitten auf dem Schreibtisch stehen. Auf der Heimfahrt musste ich zwanghaft immer weiter über das Thema nachgrübeln, so ähnlich wie man mit der Zunge nach dem Loch tastet, aus dem gerade ein Zahn gezogen worden ist. Der unbezwingbare Drang führte zu der gleichen Gänsehaut erzeugenden Mischung aus Befriedigung und Widerwillen. Ich musste mit Henry reden. Er hatte versprochen, mir mit Rat und Tat beizustehen, als die Kinseys zum ersten Mal aufgetaucht waren. Ich wusste, er würde mein Dilemma sofort begreifen: der Trost der Isoliertheit gegenüber erstickender Beklemmung; Unabhängigkeit gegenüber Gefangenschaft; Sicherheit gegenüber Verrat. Es lag nicht in meiner Natur, mir dazwischen liegende Gefühlszustände auszumalen. Für mich gab es nur alles oder nichts, und das machte es schwierig, den Status quo aufs Spiel zu setzen. Mein Leben war nicht perfekt, aber ich kannte seine Grenzen. Ich musste an Susannas Bemerkung darüber denken, dass Autonomiestreben als Deckmantel für etwas anderes dienen konnte. Als sie das gesagt hatte, war ich zu verwirrt gewesen, um mir zu überlegen, was sie meinte. Sie hatte Tante Gin gemeint, deren verhärtetes Herz ich als Liebesersatz gedeutet hatte. Hatte Susanna auch auf mich angespielt?
In meiner Straße angelangt, sah ich einen Austin Healy auf meinem Lieblingsparkplatz stehen. Ich wendete und fand eine Lücke auf der anderen Straßenseite. Dann ging ich durch das quietschende Tor und die Einfahrt bis hinter Henrys Haus entlang. Er hatte seine Gartenmöbel aus ihrem Winterquartier geholt, die Stühle mit dem Schlauch abgespritzt und ein Set dunkelgrüner Kissen darauf gelegt, an denen noch die Preisschilder hingen. Zwei Gläser und ein Krug Eistee standen neben einem Teller mit selbst gebackenen Haferplätzchen mit Rosinen auf einem kleinen Redwood-Tisch. Zuerst dachte ich, er hätte das alles für mich arrangiert, doch dann sah ich ihn in der anderen Ecke des Grundstücks stehen, wo er einer Frau, die ich noch nie gesehen hatte, seinen Garten zeigte. Die Szene besaß eine schaurige Ähnlichkeit mit einer früheren Gelegenheit, als eine Frau namens Lila Sams in Henrys Leben getreten war.
Henry lächelte, als er mich sah, und winkte mich herüber, damit er uns miteinander bekannt machen konnte. »Kinsey, das ist Mattie Halstead aus San Francisco. Sie hat auf dem Weg nach L. A. hier Station gemacht, um uns zu besuchen.« Und zu Mattie sagte er: »Kinsey hat die
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