Kirchweihmord
diktierte Festnetz- und Handynummer.
»Ich melde mich gleich wieder.« Er hängte ein.
Katinka beobachtete ihre Armbanduhr. Der Sekundenzeiger tickte. Sie spürte Melissas gleichermaßen faszinierte wie verstörte Blicke auf sich. Ihre kleine Schwester schwieg. Ungewohnt, dachte Katinka.
Anderthalb Minuten nach ihrem Gespräch mit Schröppel klingelte das Handy.
»Palfy. Was ist los!«
»Hardo!«, schrie Katinka ins Telefon. Sie hätte vor Anspannung am liebsten geheult. »Eine neue Drohung. Ein Baby soll umgebracht werden. Erst das Baby, dann die ganze Stadt , steht auf dem Zettel. Ich glaube, ich weiß, welches Baby er meint. Mila Düthorns Tochter Verena. Sie wohnen in Scheßlitz, am Kreuzschleifer.«
Mit bebender Stimme beschrieb sie das Haus.
»Wir sind unterwegs«, schnappte Harduin. Er legte auf.
Ungläubig starrte Katinka das Handy an. Dann durchwühlte sie fahrig ihr Notizbuch. Einzelne Fresszettel fielen heraus. Melissa bückte sich, um sie aufzuheben. Katinka fand Mila Düthorns Nummer.
Es klingelte sechsmal, siebenmal, achtmal.
»Geh ran, geh ran!«, flehte Katinka. Melissa ging zum Spülbecken und ließ Wasser in ein Glas laufen. Sie stellte es ihrer Schwester vor die Nase.
»Düthorn?«
Uff, dachte Katinka.
»Frau Düthorn, hier Katinka Palfy.«
Die Stimme wurde ruppig.
»Was wollen Sie?«
»Sind Sie allein mit Ihrer Tochter zu Hause?«
»Ja, mein Mann ist auf Dienstreise. Warum?«
»Verschanzen Sie sich im Haus. Schließen Sie alle Türen und Fenster. Die Polizei ist zu Ihnen unterwegs.«
»Wie bitte?«
Katinka sah Mila Düthorn paralysiert und mit offenem Mund dastehen. »Wo sind Sie jetzt?«, fragte sie betont besonnen.
»Im Wohnzimmer.«
»Wo ist das Kind?«, insistierte Katinka.
»Auf der Terrasse. Endlich schläft sie. Hören Sie, Frau Palfy. Sie können mich mit Ihren abstrusen Theorien nicht irre machen. Ich …«
»Holen Sie verdammt nochmal das Baby!«, schrie Ka-tinka. Ihre Stimme überschlug sich. »Los. Ich bleibe am Apparat.«
Mila schien sich in Bewegung zu setzen.
»Der Kinderwagen steht ganz friedlich da. Machen Sie mich doch nicht irre!«
»Gehen Sie schon rein! Machen Sie voran«, kommandierte Katinka. Ihr schwanden die Sinne, wenn sie daran dachte, dass bei der Hitze überall Fenster und Türen einladend weit offen standen. »Gehen Sie rein, schließen Sie alle Fenster! Haben Sie das Kind im Haus?«
Eigenartige Geräusche drangen vom anderen Ende der Leitung zu Katinka. Dann hörte sie ein Scheppern.
»So, Terrassentür ist zu. Zufrieden?«, fragte Mila barsch, doch eine Spur von Nervosität schwang mit. Ka-tinka konnte hören, wie sie Türen zurammte und eine große Tür ins Schloss fiel.
»Warten Sie, bis die Polizei kommt!«, befahl Katinka. »Öffnen Sie erst, wenn Sie sicher sein können, dass es niemand anderer ist.«
Mila rang nach Worten.
»Wollen Sie mir jetzt vielleicht sagen …«
Katinka seufzte. »Der Hauptkommissar wird Sie informieren.«
Durch die Leitung drang das Heulen eines Martinshornes.
»Na, dann ist ja alles klar«, sagte Katinka.
Mila Düthorn legte ohne ein weiteres Wort auf.
»O Mann!«, stöhnte Katinka. Sie legte das Handy weg und trank das Wasserglas in einem Zug aus.
Melissa sah ihr unverwandt zu. Dann sagte sie:
»Der Fall, an dem du da arbeitest … da geht es nicht um eine verschwundene Frau, oder?«
Katinka stand auf. Sie riss das Küchenfenster auf und sah hinaus. Die Hitze stand flirrend zwischen den Häusern. In diesen Hundstagen konnte man sie nicht nur fühlen, man sah sie. Luftspiegelungen wie in der Wüste. Sie drehte sich um und schaute Melissa in die Augen.
»Nein«, sagte sie. »Es geht um etwas ganz anderes und viel Größeres. Eine Katastrophe. Es könnte eine Katastrophe werden.«
»Aber du darfst nicht darüber sprechen«, mutmaßte Melissa.
Katinka starrte sie an. Verständnis aus dem Mund ihrer Schwester zu hören, war etwas Neues für sie. Du hast dich aber auch nicht gerade darum bemüht, summte ihre Kontrollwespe. Sie summte nicht aggressiv und ein paar Oktaven tiefer als sonst.
»Ganz recht«, antwortete Katinka.
Es stimmte. Sie hatte sich nicht um Melissa bemüht. Ihre Sorge hatte der Frage gegolten, wie sie ihrer Schwester möglichst langfristig und effektiv aus dem Weg gehen konnte. Sie beide telefonierten nicht, schickten keine Briefe – außer erzwungene E-Mails zu Geburtstagen und an Weihnachten. Tom kannte Melissa gar nicht. Wie lästig und strapaziös ihre Schwester sein
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