Kirchweihmord
Schreibtisch lagen Blätter mit Kringeln und Schleifen drauf – Nebenprodukt ihrer eigenen Reflexionsphase. Auf einen Zufall konnte sie sich nicht mehr berufen. Nicht, nachdem sie die imitierte, runde Schnörkelschrift auf dem gelben Klebezettel gesehen hatte. Unzweifelhaft stand nur fest, dass Claudia sich mit Antonella für den Sonntag verabredet hatte. Was dann geschehen war – nicht mehr nachzuprüfen. Die eine tot, die andere verschwunden.
Katinka hätte sich gerne mit Tom oder Britta beraten. Es fiel ihr schwer, als Einzelkämpferin in diesen verwirrenden Tatsachen und anstaltsreifen Vermutungen herumzustrampeln. Aber sie durfte nicht. Sie durfte nichts über das Ricin sagen. Gäbe sie das Geheimnis preis, würde Britta aus professioneller Sensationsgier jubilieren, Tom vor Schreck umfallen und Uttenreuther zornesbrüllend ausrasten, um Katinka unverzüglich in Isolationshaft zu verbringen.
Es klingelte. Melissa saß vor dem Fernseher und kühlte ihr geschwollenes Bein. Sie guckte Katinka neugierig zu, als sie den Hörer der Gegensprechanlage abnahm.
»Hallo?«
Nichts.
»Wer ist da?«
Keine Antwort.
»Wer hat da geklingelt, Katinka?«, wollte Melissa wissen. Sie spähte aus dem Wohnzimmer in den Flur.
»Ich guck mal runter«, sagte Katinka. Sie war die Treppe schon halb unten, als sie bemerkte, dass sie einem Giftschützen schutzlos ausgeliefert sein würde, wenn sie einfach so die Haustür aufriss. Langsam zog sie die Tür auf, hielt sich in Deckung. Niemand stand draußen. Statt dessen klebte wieder ein Haftnotizzettel an der Tür.
Erst das Baby, dann die ganze Stadt. Es ist 17 Uhr 03.
Katinka erstarrte. Dann riss sie den Zettel ab und stürmte die Treppen hinauf.
»Wer war’s denn?«, wollte Melissa wissen. Katinka antwortete nicht. Ihre Uhr zeigte 17:05. Sie drückte auf Kurzwahl 1. Harduin ging nicht ran. Sie raufte sich das Haar, wählte wieder. Keine Reaktion, keine Mailbox. Wütend pappte Katinka den Klebezettel auf den Küchentisch. Melissa kam herbeigehumpelt.
»Was ist denn los?«, fragte sie.
»Lass mich einfach in Ruhe, ja?«, fauchte Katinka. Verletzt starrte Melissa sie an.
»Was hast du denn auf einmal!«
»Probleme. Gewaltige Probleme. Jemand ist in Gefahr.«
Melissa riss die Augen auf.
»Wer? Warum?«
Katinka sprang auf und raste wie ein gefangenes Raubtier um den Tisch.
»Jemand mit einem Baby. Einem Baby. Denk nach, denk nach.«
Sie sprach zu sich selber, aber Melissa fühlte sich in der Pflicht.
»Was fragst du mich, ich kenne keine Menschenseele in dieser Stadt außer dir.«
»Sei doch mal ruhig«, gab Katinka zurück.
Sie drückte wieder auf Kurzwahl. Niemand reagierte. Sie rief bei der Polizei an. Uttenreuther sei unabkömmlich. Sie könne mit Kommissarin Johanna Winkler sprechen. Katinka winkte ab. Mit dieser Gesetzeshüterin verband sie keine angenehme Erinnerung. Sie flitzte in Toms Arbeitszimmer und kam mit dem örtlichen Telefonbuch zurück.
»Schröppel, Schröppel«, murmelte sie und fuhr mit dem Finger die Spalten entlang. »Schau mal mit, ob du einen Eintrag Schröppel findest, S-c-h-r-ö-p-p-e-l.«
»Hier!«
»Genau. Manfred Schröppel, Polizeioberkommissar a.D.«
Mit bebenden Fingern drückte Katinka auf die Nummerntasten. Sie erinnerte sich an Alpträume, in denen sie versuchte, eine bestimmte Nummer zu wählen, sich aber immer vertippte, während eine unbestimmbare, dunkle Gefahr näher und näher rückte. Ihr brach der Schweiß aus.
»Schröppel?«
»Palfy hier, Katinka Palfy. Wir saßen gestern im Griesgarten zusammen.«
»Ach, richtig.« Schröppel klang freudig überrascht. »Sind Sie gar nicht auf der Sandkirchweih?«
»Ich muss unbedingt Harduin Uttenreuther sprechen. Er nimmt sein Handy nicht ab.«
»Wahrscheinlich sitzt er in einer Besprechung der Sonderkommission fest und hört sich das Geschmarre der LKA-Leute an.«
»Aber irgendwie muss ich ihn an den Apparat kriegen.«
»Sie sind ja ganz durcheinander!«
Mach jetzt bloß nicht auf väterlich, dachte Katinka.
»Hardo war heute früh bei mir. Ein anonymer Zettel war mir ins Haus geflattert, mit einer Drohung drauf. Sie wissen schon, diese Sache …«
»…die wir lieber nicht am Telefon besprechen«, mahnte Schröppel.
»Eben kam wieder eine Nachricht, diesmal konkret. Ein Wahnsinniger will ein Baby umbringen.« Verena! So hieß die Kleine von Mila Düthorn, Katinkas Herz beschleunigte. »Herr Schröppel, helfen Sie mir!«
»Geben Sie mir Ihre Nummer durch!«
Katinka
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