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Kirchwies

Kirchwies

Titel: Kirchwies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannsdieter Loy
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Sie wohnt im anderen Flügel des Pfarrhauses. Manchmal, wenn sie nachts nicht schlafen kann, setzt sie sich ins Wohnzimmer und nimmt ihr Strickzeug zur Hand. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sie, die Langschläferin, sich um diese göttliche Stund weiter als vor die Haustür wagt. Ganz zu schweigen von einem Nachtmarsch durchs Dorf.« Er hielt kurz inne und überlegte. »Nein. Unvorstellbar.« Er kratzte sich am Hals. »Doch zurück zum eigentlichen Grund meines Anrufs.«
    »Bitte fassen Sie sich kurz. Ich hab meine Zeit nicht gestohlen.«
    »Ich nehme mir die Zeit auch nur für wichtige Dinge, Bürgermeister. Zum Beispiel für das Innenleben eines gewissen Mehmet Wandra. Kommt Ihnen der Name bekannt vor?«
    Timo spürte, wie Campari zögerte. Dann drohte er an einem Hustenanfall zu ersticken. Eigenartig.
    »Freilich kenn ich den. Sowohl den Namen wie den Mann. Was ist mit ihm?«
    »Hören Sie zu …«
    »Ich hör ja zu. Muss ich ja notgedrungen. Wie gesagt, fassen Sie sich kurz.«
    »Dem Herrn Wandra geht’s nicht gut. Er ist zwar evangelisch, aber ich mache mir trotzdem Sorgen um ihn. Ich verwende in diesem Fall einen Begriff, der mir zwar nicht gefällt, der den Nagel aber auf den Kopf trifft: Der gute Herr Wandra wird gemobbt. Und zwar von Bürgern Ihrer Gemeinde. Und zwar recht rabiat.«
    Timo schilderte an ein, zwei Beispielen, was er meinte, und schloss dann mit der sibyllinischen Feststellung: »Bei gut aussehenden Pfaffen beichten die Weiber gern. Und so wissen gewisse Pfaffen oft Dinge, die sie besser nicht wissen sollten. Die ihnen aber einen gewissen Vorsprung verschaffen.«

vier
    Campari konnte mit Timos Andeutung zunächst nichts anfangen. Er schob sie einfach beiseite. Doch dann klang der Satz des Paters in ihm nach wie eine Domglocke am Heiligen Abend. Was wollte er ihm damit zu verstehen geben, verdammt?
    Der Anruf hatte Campari kurz vor Wandras Vorladung im Rathaus erreicht. Er hatte einen Augenblick gezögert, ob er dem Pater die Neuigkeit verraten sollte, entschied sich aber dagegen.
    Über der Sparkasse im Erdgeschoss stand im ersten Stock des Gebäudes »Bürgermeisteramt« auf dem Schild vor Camparis schlichtem Büro. Es klopfte.
    »Herein!«, rief Campari mit mächtiger Stimme, wölbte seinen Bauch hervor und lehnte sich zurück.
    Mehmet Wandra. Riesenkerl, lange zerzauste Haare, schiefergraue Augen, Vollbart, einunddreißig, Gamma GT von vierundneunzig, Zyste an der rechten Niere, jähzornig. Dreiviertelhosen, T-Shirt von unbestimmter Farbe, an allen sichtbaren Körperstellen tätowiert. Kein Schufa-Eintrag. Nicht vorbestraft. Nicht einmal in Flensburg vertreten. Campari hatte die Behörden, die es wissen mussten, rechtzeitig angezapft.
    »Ist das eine Vernehmung?«, fragte Wandra schon unter der Tür.
    Campari senkte beide Nasenflügel vor die Öffnung des blauen flachen Plastikbehälters, den er unterwegs bei Wang Ming erworben hatte, und saugte einen halben Liter Schnupftabak in seine gewaltigen Atemwege.
    Wandra war langsam auf den Schreibtisch zugeschritten, hinter dem der Bürgermeister wie ein Reichsfürst saß und inhalierte.
    »Verdächtig ist jeder«, sagte Campari, »solange er kein grundsolides Alibi hat. Haben Sie eines?«
    »Darf ich?«, fragte Wandra, schielte zur Decke und schob sich den Stuhl vor dem Schreibtisch unter. »Wer hat schon um vier Uhr in der Früh ein Alibi, wenn er allein schläft?«, fragte er.
    Campari ließ den Blick über den sitzenden Mann schweifen. Er erinnerte ihn an einen schlafenden Maulesel kurz vor der Notschlachtung. Wandra hielt dem Blick stand.
    Zuletzt hatte Campari ihn bei der Gartenparty gesehen. Thea hatte ihn hereingerufen. Schon vorher hatte er den Mann nicht gemocht, und heute ebenso wenig. Er wusste es sofort und absolut. Als hätte er eine seiner Gehirnwellen aufgefangen. Doch er wollte versuchen, dieses Gefühl zu unterdrücken.
    »Ich war’s nicht«, sagte der Riese Mehmet Wandra so leise, als würde er ein Geständnis ablegen wollen. »Ich lebe seit einem Jahr in diesem Dorf. Ein Arbeitsunfall hat mich zum Versehrten gemacht, ich beziehe eine schmale Rente. Aber inzwischen wissen Sie ganz bestimmt alles über mich.«
    Campari hüllte sich in Schweigen. Von draußen war das Wummern der Pauke und das stoßweise Atmen der Tuba der Blaskapelle zu hören. Aha, dachte Campari, da will die Margot mit dem Kleinen hin. Hoffentlich übersteht sie’s mit dem grauslichen Zwergerl.
    »Noch mal: Ich war’s nicht!«, wiederholte Wandra

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