Kirchwies
im Flüsterton. »Aber das ganze Dorf nimmt an, ich sei’s gewesen. Ich hätte die Thea ermordet. Sagen Sie mir, warum ich das hätte tun sollen. Ich kannte die Frau doch gar nicht bis zu dem Moment, als sie mich hereingebeten hat auf ihre Party.«
Das klang logisch. Das einzig vorstellbare Motiv unter diesen Umständen wäre eine Vergewaltigung. Doch es war kein Sexualmord gewesen. Die Untersuchung hatte das eindeutig ergeben. Wenigstens darüber, bei aller Trauer, die er empfand, war Campari erleichtert. Andererseits: Er hatte schon Pferde kotzen sehen. Wer wusste schon, ob der Wandra nicht eine Stiefschwester oder eine junge Tante hatte, denen Thea Brommel versehentlich den kleinen Finger abgeschnitten hatte, und er sollte den Finger rächen? Oder es war ein schlichter Raubmord gewesen, bei dem er beispielsweise von Anton Scheiberl überrascht worden war?
»Ich hab für die Gefühle des Dorfs sogar ein wenig Verständnis«, fuhr Wandra fort. Er klang zerknirscht. »Doch sie gehen zu weit. Nur weil ich anders aussehe als sie, weil ich nicht von hier bin und weil ich nicht in ihr Schema passe, tun sie mir die übelsten Dinge an.«
»Ihnen? Sie sind doch so ein Mordslackel. Was tut man Ihnen denn an?«
Die Tür zum Nebenzimmer öffnete sich zögernd. Fritzi streckte den Kopf herein. Ihre Augen suchten Campari und richteten sich dann auf Wandra.
»Meine Kollegin, Frau Gernot«, stellte Campari vor. Keine Angst. Sie wird nur dabei sein«, sagte er mit gekünstelt sanfter Stimme. »Ich wiederhole meine Frage: Was tut man Ihnen an, dass Sie so nervös sind?«
»Anrufe«, sagte Wandra.
Fritzi hatte sich stehend in eine Ecke verkrochen.
»Anrufe mitten in der Nacht. ›Du Scheißmörder.‹ Sind Sie in den letzten Tagen an meinem Hof vorbeigekommen, Herr Campari? Nein? ›Hier wohnt der Thea-Mörder‹ ist da an die Wand gesprüht. Ich kann keinen Schritt im Dorf tun, ohne von jemandem angepöbelt zu werden. ›Du wirst auch nimmer lang leben‹, sagen sie mir ins Gesicht. Nachts klopfen sie an meine Tür. Ich hab nicht nur den Hof, ich hab auch Tiere von der Oma geerbt, Herr Campari. Eine kleine Ziegenherde. Drei Schafe. Hühner. Ich geh raus in der Früh und stoß mit dem Kopf an zwei tote Hühner. Aufgehängt am Türbalken.«
Wandras Augen zuckten gehetzt hin und her wie bei einem in die Enge getriebenen Tier. Seine Wangen waren brandrot, und sein Atem kam in kurzen, nervösen Stößen. Das breitflächige Gesicht wirkte ein wenig stupide. Etwas wie ein winziges Lächeln nistete in seinen Mundwinkeln. Ein Lächeln, fern von Spott und Hohn. Ein freundliches Lächeln wie ein Flehen um Hilfe.
Dieser Mann ist kein Mörder. Der hat meine Thea nicht umgebracht, durchfuhr es Campari instinktiv. Trotzdem. Er hangelte sich so langsam und vorsichtig an die Wahrheit heran wie auf einer dünnen Eisdecke.
»Hängen die Hühner noch über der Tür?«, klinkte Fritzi sich ein. Ihre tiefe, raue Stimme musste jeden überraschen. Sie trat einen Schritt vor.
»Die Hühner und das Geschmiere an der Tür«, gab Wandra zurück. »Alles noch beim Alten. Unberührt.«
»An der Tür?«, fragte Fritzi mit Blick auf Campari.
»Nein, an der Wand, meine ich«, korrigierte Wandra.
»Also alles noch da!«
»Ja. Ich hab extra nichts angefasst.«
»Na, dann will ich mal los«, wandte Fritzi sich an Campari.
Der nickte kaum wahrnehmbar und sah ihr nach, wie sie den Raum verließ. Als er die Augen wieder auf den Mann vor ihm im Stuhl richtete, stockte ihm der Atem.
Wandra saß vornübergebeugt da, die Stirn auf die Knie gestützt. Er bebte und zitterte von oben bis unten, als ob er fröre. Doch dem Mann war nicht kalt – er schien nur sein Quantum an Selbstbeherrschung total aufgebraucht zu haben. War es Wut, war es Enttäuschung, war es Ohnmacht, die eine bittere, hemmungslose Flut von Tränen und Schluchzern aus ihm schleuderten? Es war eine Reaktion auf die erlittenen Ungerechtigkeiten, da war Campari sich sicher.
Jeden Augenblick erwartete er, dass Wandra sich mit verzerrtem Gesicht aufbäumte, mit den geballten Fäusten die Tischplatte vor ihm zerhackte und etwas stammelte, das klang wie »Denen zeige ich es! Die werden eines Tages bereuen, was sie getan haben«. Er fühlte sich nicht in der Lage, sich vorzustellen, was dieser Riesenkerl alles anstellen würde, und machte sich innerlich schon darauf gefasst, einen Schutzschirm um die unschuldige Bevölkerung errichten zu lassen.
Doch es kam vollkommen anders. Wandras Reaktion
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