Kirchwies
der Äther nicht so rasch verdunstete, hatte er das Tuch in eine Plastiktüte gewickelt. Er schlich ums Haus und klopfte zaghaft ans Panoramafenster. Er krümmte sich, als habe er heftige Bauchschmerzen, und machte ein verzerrtes Gesicht.
Als Odilo am Fenster auftauchte, sank die fremde Figur vor Schmerz auf die Knie und warf die Arme nach oben. Odilo öffnete wie im Plan vorgesehen die seitliche Terrassentür, trat an den Unglücklichen heran und beugte sich besorgt über ihn.
»Mir ist plötzlich übel geworden«, sagte der Todesengel mit tiefer Stimme.
»Das hast du davon«, sagte Odilo.
»Wovon?«
»Weiß nicht«, sagte Odilo.
Der Todesengel brauchte indes keine fünf Sekunden, um den äthergetränkten Lappen herauszuholen. Er wandte den Kopf und ließ den Blick schweifen. Niemand. Nur ein paar Vögel. Dann drückte er mit der Linken den Kopf des Kindes nach hinten. Mit der Rechten presste er den Lappen fest gegen Odilos Gesicht und über die Nasengegend. Das Kind wehrte sich. Aber der Angreifer war stärker. Als der Kleine zusammensackte, hielt er ihn mit einem Arm fest.
Gut, dass er sich vorher die dünnen Gummihandschuhe übergestreift hatte.
Nun hätte er sich ein Auto gewünscht. Doch hätte er das Auto benutzt, hätte jeder sich an ihn erinnert. Den Fahrradanhänger jedoch, in den er den Jungen hob, kannte jeder in Kirchwies. Damit würde er nicht weiter auffallen.
Es war nicht weiter schwierig gewesen. Den Lappen auf sein Gesicht halten, mit dem Handteller leicht zudrücken. Innerhalb von Sekunden hatte das Kind das Bewusstsein verloren. Die Wirkung würde für die Zeit, die er brauchen würde, den Jungen zum Versteck zu bringen, anhalten. Und er würde sich – hoffentlich! – an nichts erinnern können.
Das war nun Stunden her.
Für die Entführung des Kindes und die Zeit danach hatte der Todesengel einen detaillierten Zeitplan ausgearbeitet. Er wusste, dass der Bub, geschwächt wie er nach dem Erwachen sein würde, keinen Widerstand leisten konnte.
Der Junge würde sehr rasch vermisst werden. Sobald die Frau des Bürgermeisters von ihrem Kaffeeklatsch zurückkommen würde, wäre ihr klar, dass der Bub nicht mehr im Haus war. Dass er abgehauen war. Denn auf eine Entführung würde zunächst niemand kommen.
Das schenkte dem Todesengel Zeit.
Er würde warten, bis es dunkel war. Dann würde er ihn wieder aus der abgedeckten Grube holen. Sicherheitshalber würde er ihn fesseln und ihm die Augen verbinden. Einen Knebel würde er ihm vermutlich ersparen.
Der übrige Zeitplan war einfach. Er würde ihn zum Wald oberhalb des Blumenhofs bringen. Zu der Stelle, wo der Feldbach den Fuchssteig kreuzt. Dort würde er den Jungen an einen Baum binden. Bei diesem Gedanken entschied er sich um. Er würde ihm doch einen Knebel in den Mund stecken. Seine Schreie würden sonst den ganzen Blumenhof wecken.
Er würde den Buben an den Baum binden, den er schon markiert hatte, und ihn dort zurücklassen. Eine Buche im Mischwald. Mit dem Gesicht zum Berg. Ob er ihn erwürgen würde, ließ er vorerst offen. Das hing von der Reaktion der anderen ab. Wie sie seinen Brief aufnehmen würden.
Die Handschuhe würde er flussabwärts verstecken. Ganz in der Nähe des Orts, an dem er schon die Handschuhe beiseitegeschafft hatte, die er anhatte, als er die Hure getötet hatte.
Der Todesengel nahm seinen Zeitplan zur Hand. Sah auf die Uhr.
Spätestens um zehn Uhr würde er von seinem »Spaziergang« nach Hause zurückkehren. Niemand würde die Abwesenheit bemerkt haben. Der Zeitplan war perfekt. Der Wecker würde um sechs Uhr klingeln, wie immer. Dann begann sein normaler Tagesablauf.
Ob der Junge dann tot sein würde oder nicht, war ungewiss.
* * *
An diesem Tag hagelte es Nachrichten für Campari.
Er hatte einen Anruf von Margaret Baumgardner erhalten. Ihrem Akzent nach zu schließen war die Spielerin der Basketballmannschaft des TSV Wasserburg Amerikanerin. Willy Brey, der Coach, hatte sie vermittelt. Zunächst hatte sie sich an Fritzi Gernot gewandt, und Fritzi hatte sie an den Bürgermeister verwiesen.
Die Verständigung war denkbar schlecht gewesen. Es klang, als wandele Margaret Baumgardner gerade durch ein sehr aktives Zementwerk oder befinde sich in einem brennenden Flugzeugwrack.
Ja, sie sei näher mit Thea befreundet gewesen.
Nein, sie sei deswegen nicht auf der Beerdigung gewesen, weil sie zu Hause in Illinois selbst einen Todesfall gehabt und erst nach ihrer Rückkehr von dem schrecklichen Tod ihrer
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