Kirchwies
»Ich hab dich gesucht und nach dir gerufen. Wo bist du gewesen, Fanny?«
Sie griff wieder zum Strickzeug, das sie eine Weile hatte ruhen lassen. »Na, unten beim Löchl. Ich wollt mir dieses Affentheater noch mal anschauen.« Sie sah Timo kurz an und dann an ihm vorbei nach oben. Als ob sie einem Vogel nachschauen wollte, der gerade aufflog. »Ich kann’s verstehen. Wenn du einen Menschen umgebracht hast, bleibt dir keine andere Wahl. Du musst dich selbst richten.«
Pater Timo sah seine Schwester lange an. Auf eine Art, als ob er eine Weile über ihre Aussage nachdenken müsste. Dann streckte er die Hand aus und schüttelte die ihre, hielt sie über Sekunden in der seinen und legte dann seine andere darüber.
»Du bist eine gute Frau, Fanny«, sagte er. »Ich werde mit Jesus darüber reden.« In seinem Ton lag etwas uncharakteristisch Süffisantes. »Und, liebes Schwesterherz – was gibt’s zum Frühstück?«
Abwesend fuhr er sich mit den Händen über die Soutane und strich sie glatt. Wohlig lehnte er sich zurück und blinzelte nach Osten. Jede Formation in der beinahe durchsichtigen Gebirgskette war untrennbar mit seinem Leben verwoben. Kein Wölkchen trübte den Himmel. Auf der Wiese jenseits des Gartenzauns blühten Feldblumen, von denen Timo jede einzelne beim Namen kannte. Ein Grasfrosch kroch mühsam durch eine Masche des Drahtzauns. Traktorengeräusch in der Ferne. Morgendliche Idylle.
* * *
Die Morgensonne breitete einen rosa Lichtschein über das Kirchwieser Tal. Sein Dorf, so wie es Campari sah, hatte ihn noch nie so intensiv beschäftigt wie in diesen Tagen. Der brutale Mord an Thea Brommel, die Kindsentführung und jetzt der spektakuläre Selbstmord des Neubürgers Wandra. Er fühlte sich wie die berühmte Spinne im Netz. Fäden und Strahlen in alle Richtungen. Nichts wirklich Greifbares, alles verschwommen.
Der Handschuh mit den Blutresten könnte der Durchbruch werden. Doch dafür hätten alle Bürger von Kirchwies in Reih und Glied antreten und Speichelproben abliefern müssen. Nur der Vergleich mit dem DNA -Ergebnis des Handschuhs könnte es bringen. Fritzi müsste von Haus zu Haus gehen und den Mundabstrich machen. Der Brunnerbeck, Wang Ming, die Heidi, der Scheiberl Anton und viele andere mehr. Auch die Frau Stadtmüller, er, Campari selbst, die Margot, der Pater und die Fanny …
Campari war inzwischen jedoch endgültig überzeugt, die raschere und effektivere Lösung zu kennen. Er hatte sie in seiner Zeit bei der Mordkommission München mehrfach praktiziert. Zwei Fälle hatte er gehabt, die ihn nie losgelassen hatten, und beide hatten sie schließlich auf diese Art gelöst.
vier
Camparis E-Mail an den zuständigen Richter ging unverzüglich raus. »Beantrage Exhumierung der Leiche von Frau Thea Brommel nach Paragraf 87, Absatz 3 S t PO .« Seine Begründung hielt er für absolut stichhaltig.
Fritzi erklärte er: »In solch einem Fall müssen die Angehörigen über eine Ausgrabung informiert werden. Sie müssen nicht einverstanden sein. Nur Kenntnis davon sollten sie erhalten. Aber, liebe Frau Doktor – kennen wir Angehörige von Thea Brommel?«
Sie musste nicht lange überlegen. »Nein«, sagte sie schließlich leise. »Es gibt ihre Mutter Monika und den Stiefvater. Aber die leben in Venezuela, heißt es. Theas leiblicher Sohn wurde adoptiert und heißt jetzt Hubert Krauss. Der muss ja wohl nicht informiert werden.«
Campari spürte, dass mit Fritzi etwas nicht stimmte. Sie war zu ihm ins Rathaus gekommen, und sie saßen an dem kleinen Besprechungstisch in einer Ecke seines Büros. Er hatte ihr Kaffee angeboten, doch sie wollte Wasser.
»Geht’s dir nicht gut?«, fragte er sie. »Seit du das Mail an den Richter gelesen hast, bist du wie verändert. Und ganz blass. Du als frühere Ärztin wirst doch nicht vor so einer Ausgrabung zurückschrecken? Du doch nicht!«
Fritzi lächelte. Wenn Fritzi lächelte, ging die Sonne auf.
»Nein, deswegen nicht. Aber allein der Gedanke, dass Thea tot ist, erschüttert mich jedes Mal aufs Neue. Und wenn mir im selben Augenblick einfällt, auf welch grausame Weise sie ums Leben gekommen ist, wühlt mich das mit aller Gewalt auf.«
Campari langte über den Tisch und nahm ihre Hand. Kaum spürte er die Kälte ihrer Haut, zuckte er im selben Moment instinktiv zurück. Wenn Margot jetzt hereinkäme …
Doch dann besann er sich.
Er stand auf. Im Vorübergehen strich er ihr leicht übers Haar und ging zum Schreibtisch. Dort lag ein dicht
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