Kirchwies
Ohne die Vergleichs- DNA des Vaters war die Mutter wehrlos.
Er wunderte sich ohnehin, dass nicht schon lange sämtliche Einwohner von Kirchwies zum Speicheltest gerufen worden waren. Würden alle dem Ruf folgen? Würde er selbst der Aufforderung nachkommen? Hätte er dann eine Chance zu entwischen?
Vorher musste er sich aber noch dieser Fritzi widmen. Dass ihr Bub plötzlich verschwunden gewesen war, hatte sie anscheinend nicht weiter berührt. Alles war wie vorher. Er hielt sie für grad so ein Flittchen wie diese Thea. Seit Neuestem beschäftigte sie sich mit diesem Fremden, der mit dem Zug gekommen war. Und vorhin, von weithin sichtbar, hatte sie sich sogar mitten in der Nacht mit dem Campari getroffen, der auch schon eine Affäre mit Thea gehabt hatte.
Es musste etwas geschehen.
Diese Fritzi musste weg! War dieses Dorf ein Freudenhaus?
* * *
»Der größte Mist, die größte Pein können im Nachhinein ganz nützlich sein.«
Pater Timo sprach leise und hoffnungsfroh. Er kehrte die Reste des Schutts in seiner Kirche zusammen. Vielleicht würde er durch diese göttliche Warnung eher an die Renovierung des Glockenturms kommen? Campari hatte eine Andeutung gemacht. Und dass die örtliche Feuerwehr die Trümmer wegräumte, wertete er zusätzlich als positives Zeichen.
»Mach’s dir nicht zu leicht, mein Sohn!«
Timo lies den Besen fallen und drehte sich langsam um. Der Herr Jesus hing an seinem Kreuz wie immer. Bewegungslos und mit geschlossenen Augen. Das entrückte Antlitz, die Dornenkrone auf dem Haupt, das Tuch um die Lenden. Jesus hatte gesprochen, da war Timo sich sicher.
Er schloss die Augen und lauschte.
»Geh in dich und frage dich, was du zur Aufklärung dieses unwürdigen Verbrechens beitragen kannst. Steh nicht ratlos vor den Trümmern dieses Hauses und lass nicht alles ungestraft geschehen. Denk an das Alte Testament. Denke nach, wer das getan haben könnte. Er muss bestraft werden. Du kennst sie alle, die Sünder dieses Dorfes. Sie können weit entfernt sein und doch sehr nah. Überlege! Mein Vater hat dir den Verstand verliehen, Zusammenhänge zu verstehen. Nutze diese Chance. Wer sonst außer dir hat solch einen göttlichen Ratgeber. Einen persönlichen Coach. Enttäusche ihn nicht!«
Und damit, als ob der Coach den Hörer aufgelegt hatte, war das Gespräch beendet. Pater Timo ging in sich. Überlegte. Was hatte Jesus gemeint?
Der Herr hatte eine wohltönende, äußerst sympathische Stimme. Mit der Farbe dieses Klangs, seiner Weisheit und den feinen Gesichtszügen wäre er heute … Timo verwarf den Gedanken. Nein, Fernsehmoderator, so ein abartiger Blödsinn!
»Fanny!«, rief er laut, als er sich auf das Pfarrhaus zubewegte. Der Saum seiner Soutane schleifte wie eine Schleppe hinter ihm her übers Gras. »Fanny, du musst mir helfen!«
Inzwischen war es früher Morgen geworden. Fanny klappte das Gesangbuch zu. Ihre Hände, abgearbeitet und schwielig, hielten es noch eine Weile fest. Sie hatte nicht hineingeschaut, weil sie das Lied, das sie aufgeschlagen hatte, ihr ganzes Leben lang gesungen hatte und den Text im Schlaf konnte. Aber auch, weil sie wieder einmal ihre Lesebrille nicht finden konnte.
Fanny saß in ihrem Korbstuhl auf der Terrasse. Es war beinahe so, dass sie ein schlechtes Gewissen plagte, denn eigentlich hätte sie sich den täglichen Haus-, Garten- und Reparaturarbeiten widmen müssen. Auch zum Mützenstricken verspürte sie nicht die geringste Lust.
Timo schien sich wieder mit Jesus unterhalten zu haben. Ein diabolisches Grinsen legte sich über ihr Gesicht. Sie fragte sich, wie ihr Bruder wohl über den Mord dachte. Sie selbst hatte das Thema im Gespräch mit ihm bisher vermieden. Auch er hatte sich nicht weiter geäußert. Allein der Glockenturm machte ihm zu schaffen.
Pater Timos Schwester war eine einfache Frau, und sie kleidete sich dörflich. Doch in diesem Augenblick strahlte sie eine ungeheure Willenskraft und Stärke aus. Und sie hatte einen durchdringenden Blick, wenn es galt, jemanden zu überzeugen.
»Lass die Finger von der Sach«, riet sie ihrem Bruder dringend. »Du bist Pater, kein Ermittler bei der Kripo. Lass die anderen doch wurschteln. Der Campari, dieser Wichtigtuer, hat sich doch förmlich aufgedrängt. Und diese Fritzi Gernot meint, mitmachen zu müssen, bloß weil sie einmal eine Meisterin im Boxen gewesen ist.«
Damit ließ sie’s gut sein.
»Wo warst du, als ich den Schutt in der Kirche weggeräumt habe?«, fragte der Pater beiläufig.
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