Kirschenküsse
Nachzügler, unter anderem der Besitzer des riesigen Rollkoffers, die Halle betreten hatten, setzte unser Reiseleiter erneut zu einer kleinen Rede an. Während die Worte an mir vorüberzogen, ohne dass ich sie wirklich wahrnahm, versuchte ich, Anett in der Menge auszumachen. Sie stand weiter vorn, leider ganz in der Nähe von Norman, der allerdings mit seinen Busfreunden so beschäftigt war, dass er nicht nach links oder rechts blickte.
»Ich habe hier die Liste mit der Zimmerverteilung«, sagte Herr Heidenreich schließlich und wedelte mit einem großen Zettel. »Ich werde sie hier am Schwarzen Brett befestigen, damit jeder sie einsehen kann. Wenn ihr eure Zimmernummer gefunden habt, geht die Treppe hinauf und bringt eure Sachen nach oben. In einer Stunde treffen wir uns wieder hier unten.«
Das Schwarze Brett war eine Art Glaskasten, hinter dem man für gewöhnlich die Postkarten und Broschüren, die an Touristen verkauft wurden, ausstellte. Sie waren auch immer noch da, wurden aber im nächsten Moment von dem A3-Zettel bedeckt.
Alle strömten nun zu dem Schaukasten, und es dauerte wiederum eine Weile, bis ich in die Nähe kam. Norman ging glücklicherweise bereits die Wendeltreppe hinauf, als ich endlich erkennen konnte, was auf dem Papier stand.
Hier wartete die nächste »tolle« Überraschung auf mich.
Dass ich Anett mit im Zimmer haben wollte, war ja wohl klar, aber in jeden Raum passten vier bis sechs Leute. Nach meinem anfänglichen Jubel darüber, dass meine Sitznachbarin aus dem Bus tatsächlich in meinem Zimmer wohnen sollte, entdeckte ich unter den anderen Namen auch Carla, die Tussi.
»Na immerhin nur drei Leute mit im Zimmer«, hörte ich sie dicht hinter mir stöhnen. Die Parfümwolke, die sie umgab, hüllte mich ein wie der Nebel aus einem Gruselfilm. Auch wenn ich mich dadurch ein wenig betäubt fühlte, überhörte ich nicht den herablassenden Klang ihrer Stimme.
»Was hast du denn erwartet? Dass das Prinzesschen ein Einzelzimmer bekommt?« War das wirklich ich, die das gesagt hatte? Die Begegnung mit Norman musste irgendwas bei mir verändert haben … Oder lag es an der Umgebung?
Carla starrte mich an, als hätte ich ein Horn an der Stirn, dann setzte sie ein überhebliches Lächeln auf.
»Schätze mal, dass du keine besonderen Ansprüche an deine Umgebung stellst.«
»Doch, schon, aber ich versteh nicht, was du hier dran auszusetzen hast.« Ich machte eine ausschweifende Bewegung mit der Hand. »Sei froh, dass du nicht im Zelt schlafen musst.«
Carla spielte filmreif die empörte Diva, so mit Augenbrauenhochziehen und aufklappendem Mund, aber da hinter ihr noch andere waren, die an die Liste wollten, hatte sie keine Zeit mehr, mir eine Szene zu machen. Nachdem sie mir noch einen giftigen Blick zugeworfen hatte, wirbelte sie herum und verschwand in Richtung Treppe.
Unsere Unterkünfte waren über einen langen Gang verteilt. Die Bodendielen knarzten unter unseren Füßen und die Wände waren vertäfelt. Zwischen den Türen hingen schwere, goldgerahmte Gemälde.
Ich fand es ganz schön mutig, sie einfach so hängen zu lassen. Immerhin hielten sich gut fünfzig junge Leute hier auf. Es würde mich nicht wundern, wenn einer der Gestalten in Perücke oder mit Ritterhelm demnächst ein richtiges Paar Augen hätte − in Form von zwei durch die Leinwand gestochenen Löchern.
Anett war mittlerweile schon oben. Kein Wunder, sie hatte ja zu denjenigen gehört, die zuerst an das Schwarze Brett hatten schauen können. Ich wusste nicht, woher sie das Faltblatt hatte, aber als wir an unserer Zimmertür ankamen, überraschte sie uns mit einem kleinen Vortrag über die Geschichte des Gebäudes.
»Die Burg, die an dieser Stelle stand, wurde von dem Wendenfürsten Borgumir im Jahre elfhundert errichtet. Später wurde es Sitz mecklenburgischer Adliger. In der Neuzeit war hier ein Wohnheim für angehende Kindergärtnerinnen samt zugehöriger Schule eingerichtet worden. Diesem Umstand verdanken wir diese Zimmer hier.« Anett klopfte gegen die Tür, die in die getäfelte Wand eingelassen war und nur durch die Türklinke vom restlichen Mauerwerk unterschieden werden konnte.
»Bei den Bildern, die hier aufgehängt sind, handelt es sich um Kopien, die auf Leinwand gepresst wurden. Die Originale können im Schlossmuseum bewundert werden.«
»Wenn sie schon Angst haben, dass hier was kaputtgeht, warum hängen sie nicht gleich andere Bilder auf?«, fragte Carla gelangweilt. »Kunstdrucke gibt’s doch
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