Kirschenküsse
der Falten auf seiner Stirn.
Vielleicht sollte es solch einen Wettbewerb wie den vom Sommercamp auch für Erwachsene geben, damit sie auch dann Urlaub machen konnten, wenn sie kein Geld dafür hatten.
Ich seufzte und schaufelte eilig das Müsli in mich hinein. Trotz gedrückter Stimmung und verpatztem Frühstück kehrte aber schnell meine Vorfreude auf die bevorstehende Woche zurück. Sommercamp – ich komme!
Paps machte sich auf den Weg zu der Arbeitsstelle, bei der er sich laut Annonce melden sollte, als auch wir aufbrachen. Wir spuckten uns zum Abschied gegenseitig ein »Toi, toi, toi« über die Schulter, dann stieg ich ins Auto und Mama brauste los.
Am Treffpunkt, von dem der Bus abfuhr, wurde mir klar, dass sich die Hetzerei nicht gelohnt hatte. Die Campteilnehmer standen alle noch dort, und der Bus, der in meiner schlimmsten Fantasie bereits abgefahren war, ließ auf sich warten.
»Mach es gut, mein Schatz, und melde dich zwischendurch mal«, sagte Mama und drückte mir einen Kuss auf die Wange.
»Klar, ich schreibe euch«, versprach ich.
Als ich ausstieg, meinte ich die Blicke der anderen wie Tausend Nadeln auf mir zu spüren. War es uncool, sich von seiner Mutter zum Bus bringen zu lassen?
Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, in den Ferien eine ganz andere Sina zu werden. Eine selbstsichere, schlagfertige Sina. Aber jetzt war ich genauso unsicher wie dann, wenn Norman in der Nähe war. Während mein Magen kniff und zog, schulterte ich meine Tasche und gesellte mich zu den anderen. Dass es ausnahmslos unbekannte Gesichter waren, die mich nun gründlich musterten – doch freundlicher als vermutet? –, beruhigte mich ein wenig. Offenbar war niemand aus unserer Schule hier! Also würde niemand wissen, wer ich war. Davon ermutigt, erwiderte ich die Blicke der anderen oder musterte ihre Profile.
Die Teilnehmer des Camps waren schätzungsweise zwischen zwölf und sechzehn Jahre alt. Ein riesiger Mann im grün gestreiften Polohemd war wohl unser Reiseleiter.
Dann streifte mein Blick etwas zutiefst Schockierendes.
Ich konnte nicht fassen, was ich da sah!
Da drüben stand tatsächlich Norman! Norman, der Blödmann, Norman, das Stinktier, Norman, der …
Ein beunruhigender Gedanke beendete meinen stillen Schimpfmarathon auf meinen schlimmsten Schulfeind. Hatte er gesehen, wie ich den Zettel genommen hatte? Kam er absichtlich mit, nur damit er mich quälen konnte? Nein, das war doch absurd! Oder?
Während ich immer noch versuchte, mich von meinem Schrecken zu erholen, rauschte der Reisebus heran. Vielleicht sollte ich besser nicht einsteigen.
Doch da war sie wieder, die kleine Stimme: Lass dir von diesem Blödmann doch deinen Traum nicht verderben.
»Herrschaften, aufgepasst!«, rief der Reiseleiter und klatschte in die Hände. »Ich will kein Drängeln beim Einsteigen sehen!«
»Als ob wir noch sechs Jahre alt wären«, spottete daraufhin ein Mädchen neben mir. Wie sie da hingekommen war, wusste ich nicht, aber ich hatte selten jemanden gesehen, dessen Kleidung und Make-up so gut abgestimmt waren. Ihr schwarzes Haar hatte einen leichten Rotschimmer, wahrscheinlich war das einer Tönung zu verdanken. Ihre rote Bluse und der weiße Stufenrock sahen aus, als seien sie einer Edelboutique entsprungen. Und das, obwohl ich sie kaum älter als mich schätzte!
Kein Wunder, dass sie hier war! Aber was war mit Norman? Seit wann interessierte er sich für Mode oder Kunst? War das Ganze doch ein bösartiges Komplott, in das ich hineingeraten war?
Trotz der Ermahnung des Reiseleiters ging das große Gedrängel los. Ob Norman sich daran beteiligte, wusste ich nicht, aber es war anzunehmen. Ich bekam so einen massiven Schubs von hinten, dass ich beinahe die Bodenhaftung verlor und gegen meinen Vordermann fiel.
»He, geht’s noch?«, rief eine Mädchenstimme, doch es war nicht das Model. Ein weiteres Mädchen wurde ziemlich unsanft an mir vorbeigedrückt, so als hätte jemand Anlauf genommen und genau die Reihe erwischt, in der es stand.
Das Mädchen hatte langes schwarzes Haar und trug Latzhosen – wie Mona. Sonst sah es meiner Freundin − wenn sie es denn noch war − nicht ähnlich, aber die Latzhosenträgerin war mir wesentlich sympathischer als die Schönheit hinter mir.
Kurz trafen sich unsere Blicke und wir lächelten uns an. Das schien dem Mädchen zu reichen, um zu mir zu kommen.
»Hi, ich bin Anett«, stellte sie sich vor.
»Sina«, entgegnete ich und wurde rot. Blöde Angewohnheit!
Anett
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