Kirschenküsse
Nacken und schien sich gar nicht sattsehen zu können an dem überdimensionalen Kronleuchter. Anett zog ihren Flyer aus der Tasche und las noch einmal nach, als würde sie während der Tour abgefragt werden. Und ich stand einfach nur da, schaute hierhin und dorthin und hoffte, dass Norman, der ja auch bald hier auftauchen musste, von einer Phase der Einfallslosigkeit geplagt wurde. Nicht, weil ich ihm einen Misserfolg beim campeigenen Wettbewerb gönnte. Nein, ihm sollten nur keine Gemeinheiten gegen mich einfallen.
Aber bei meinem Glück hatte er sicher schon sämtliche Zimmergenossen gegen mich aufgehetzt.
Schließlich wurde es laut über uns und die nächsten Gruppen trafen in der Halle ein. Offenbar hatten sich alle anderen dazu verabredet, gemeinsam runterzugehen.
Herr Heidenreich stieß ein erleichtertes Schnaufen aus, das man sogar durch das Getrampel und das Stimmengewirr vernehmen konnte. Als ob uns irgendwas weglaufen würde! Das Schloss stand schon seit neunhundert Jahren und würde sich gewiss in den nächsten Stunden nicht erheben und mitsamt Schlosspark umziehen.
»In diesem Haus sind Kunst und Modeschaffen mehrerer Jahrhunderte vereint«, begann Herr Heidenreich seine kleine Ansprache. Er schien ein Faible dafür zu haben. »Schaut genau hin, vielleicht kann der eine oder andere Inspiration aus den gezeigten Werken schöpfen.«
Na da war ich aber mal gespannt!
Wenig später setzte sich unsere Gruppe in Bewegung. Bis zu den Festsälen, die der Öffentlichkeit als Museum zur Verfügung standen, konnten wir noch in unseren Straßenschuhen gehen, ab einem bestimmten Punkt hieß es aber »Latschen anziehen«. Zwei etwas finster dreinblickende Museumsbedienstete achteten peinlich genau darauf, dass auch ja niemand seine eigenen Schuhe anbehielt.
Die Museumsräume erschlugen einen beinahe mit Gold und rotem Samt. Die Decke des Festsaals war mit leuchtend bunten Gemälden versehen, die Bilder an der Wand steckten in schweren goldenen Rahmen.
Ich musste an den Besuch bei Ivy denken. Ihre Mutter wäre auf das alles hier sicher total abgefahren. Da fiel mir auch wieder ein, dass ich für sie ein Bild schießen sollte. Ein altes Kleid, das ihr gefallen könnte. Sicher wollte sie nichts Grellbuntes. Auch das cremefarbene Spitzenmodell der Herzogin schied wohl aus. Mir gefiel es recht gut, wenngleich ich es mir schwierig vorstellte, den ganzen Tag mit solch einem ausladenden Reifrock herumzulaufen. Aber die Herzoginnen von damals hatten wohl viel Zeit und geräumige Kutschen, von denen sie sich umherfahren lassen konnten.
Nach weiteren, recht farbenfroh eingerichteten Räumen – blaues Zimmer, grünes Zimmer, rotes Zimmer, gelbes Zimmer – gelangten wir in einen lang gestreckten Saal, der nur in Braun und Gold gehalten war – die Ahnengalerie.
Die Bilder hier waren sogar noch höher als Herr Heidenreich, der aus unserer Gruppe wie ein Leuchtturm herausragte. Sie zeigten die Vorfahren des Herzogs aus dem prachtvollen Saal, den wir zuerst betreten hatten. Natürlich gab es viel Gelächter über die Rüstungen und Pumphosen, in denen einige der Herrschaften steckten. Auch das Aussehen der Gesichter wurde diskutiert.
»Da kannst du mal sehen, dass die Filme, die die königlichen Herrschaften immer als wunderschön darstellen, falsch sind«, flüsterte mir Anett zu.
»Stimmt, Adel ist keine Garantie für Schönheit«, entgegnete ich. Mein Vater hätte wahrscheinlich gemeint, dass das recht seltsame Aussehen davon käme, dass nicht nur einmal innerhalb der Familie geheiratet worden war. Nicht umsonst hieß es, dass die meisten Adelshäuser miteinander verwandt waren. Ich glaubte jedoch, dass die Menschen sich vom Aussehen her ständig weiterentwickelten. Sogar die Jugendfotos meiner Großeltern sahen anders aus als wir heute – und das nicht nur wegen der Kleidung.
Eine Frau auf den Bildern war jedoch sehr schön. Wie ich auf dem goldenen Schildchen, das am Rahmen angebracht war, lesen konnte, handelte es sich um eine russische Prinzessin, die es durch Heirat hierher verschlagen hatte. Als sie gemalt wurde, musste sie nur wenig älter als wir gewesen sein. Ein langes Leben hatte sie allerdings nicht. Schon mit dreißig war sie gestorben.
»Kindbettfieber oder die Pest«, vermutete Anett, die sich offenbar gut auf das Camp vorbereitet hatte. »Damals sind die doch irgendwie alle daran gestorben.«
Weniger schön war die Trägerin eines dunklen Kleides mit großem weißem Spitzenkragen, die auf dem
Weitere Kostenlose Bücher