Kirschenküsse
zunächst gedacht hatte. Seine Stimme war bereits tiefer und er hatte einen leichten Bartwuchs. Ich schätzte ihn auf mindestens sechzehn. Und er sah gut aus! Besser, als Norman und Konsorten je aussehen würden!
Ich war so fasziniert von ihm, dass ich beinahe seine Frage überhört hätte.
»In welcher Sparte nimmst du teil?«
»Ähm, ich … ja, äh …«, stammelte ich. Konnte ich ihm sagen, dass ich am Modeseminar teilnahm? Jungen taten das vielleicht als doofes Mädchengehabe ab, wenn man sich für Mode interessierte. Aber irgendwie machte er nicht den Eindruck, als würde er in Klischees denken. Oder würde er mich aufgrund meiner nicht hypermodernen Klamotten komisch angucken, wenn ich ihm meine Sparte verriet? Auch Mona hatte geglaubt, das hier wäre nicht der richtige Ort für mich …
Allerdings hätte ich wohl auch nicht diesen Jungen getroffen, wenn ich zu Hause geblieben wäre.
»Mode«, platzte es also aus mir heraus, bevor ich es verhindern konnte. Mein verdammter Sinn für Ehrlichkeit!
»Mode ist nicht schlecht. Immerhin brauchen die Leute was zum Anziehen.«
Irrte ich mich oder klang er jetzt irgendwie verlegen? Oder waren das die ersten Anzeichen von Abneigung?
Oh, bitte nicht!
»Wo genau wohnst du denn? Auch im Schloss?«, fragte ich, um die Situation ein wenig aufzulockern. Mensch, warum bekam ich meine Unsicherheit nicht in den Griff?
Thomas schüttelte den Kopf und deutete auf das restaurierte Fachwerkhaus neben der Torbrücke, das man von hier aus gerade noch so sehen konnte.
»Nein, nicht im Schloss, sondern dort drüben. In den Sommerferien helfe ich meinem Vater.«
»Aha.« Mehr brachte ich nicht heraus und kam mir dabei total bescheuert vor.
Wieder sahen wir beide uns verlegen an, dann sagte Thomas. »Okay, ich muss wieder. Sicher geht es bei euch bald zum Frühstück.«
»Sehen wir uns noch mal?«, fragte ich ohne nachzudenken. Dann wurde ich rot.
»Sicher, ich bin der mit der grünen Schürze. Oder wie ein paar von euch sagen, der Gärtnerboy .«
Gern hätte ich ihm gesagt, dass Norman ein Blödmann ist und er nicht auf ihn hören sollte. Aber ich brachte die Worte vor Aufregung nicht heraus. Doch Thomas lächelte mich an, sodass es mir durch und durch ging. Vielleicht machte er sich auch nichts aus den doofen Sprüchen. Er hob die Hand zum Abschied und verschwand dann hinter der Hecke.
Da stand ich nun, in Badelatschen und Bademantel, überhaupt nicht richtig angezogen, um auf solch einen tollen Jungen zu treffen. Und mein Herz benahm sich wie ein Vogel, der gegen seinen Willen in einem Käfig festgehalten wurde.
Keine Ahnung, wie lange ich die Salzsäule spielte. Als in der Ferne der Rasenmäher ansprang, wurde mir bewusst, dass die anderen jetzt auch nicht länger würden schlafen können. Das musste unser Reiseleiter damit gemeint haben, dass wir hier keinen Wecker brauchten.
Schnell wie der Blitz huschte ich zum Schloss zurück. Norman durfte mich in diesem Aufzug auf keinen Fall sehen!
Völlig außer Atem erreichte ich mein Zimmer. Anett, Nicole und Carla wälzten sich gerade aus den Federn.
»Warst du etwa schon duschen?«, fragte Anett, während sie sich in den Augen rieb. Nicole gähnte so breit, dass eine Bockwurst quer in ihren Mund gepasst hätte, und die erste Amtshandlung unserer Schönheitskönigin war, einen kleinen Taschenspiegel hervorzukramen und sich darin zu betrachten. Ob sie nach neu entstandenen Pickeln suchte?
»Frühsport!«, tönte es plötzlich durch die Gänge. Das Aufheulen des Feueralarms hätte nicht schlimmer sein können. Selbst die superschlanke Carla rollte die Augen nach oben.
»Auch das noch! Sind wir hier im Pfadfinderlager?«
Anett seufzte und fingerte ein Shirt mit Tarnfleckmuster aus ihrer Tasche. Offenbar hatte sie bereits geahnt, was kommen würde. Bei Gelegenheit sollte ich sie fragen, ob sie schon mal an einem Camp teilgenommen hatte. Und was noch für Überraschungen auf uns zukommen würden.
Wenige Minuten später standen wir im Sportzeug oder zumindest Sachen, die danach aussahen, im Flur. Zu unserer großen Überraschung hatten auch unsere Betreuer Jogginganzüge oder Ähnliches angezogen, offenbar brauchten wir uns nicht allein zu schinden.
»Um kreativ zu sein, braucht es Ausdauer, und ein fantasievoller Geist benötigt einen gesunden Körper«, verkündete Herr Heidenreich gut gelaunt, während er sich ein mintgrünes Handtuch um den Nacken schlang, als hätte er schon die ersten Kilometer hinter sich
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