Kirschenküsse
schon nach Hause gegangen waren, ein paar Fotos schießen zu können. Zum einen für Ivy, zum anderen für Mona, für den Fall, dass sie doch etwas über die Reise wissen wollte. Aber daraus wurde nun nichts, denn wo ein Konzert war, waren auch Aufpasser, die darauf achtgaben, dass niemand etwas von den vergoldeten Bilderrahmen abbrach oder vielleicht eine kostbare Porzellanvase mitgehen ließ.
Das Fotografieren musste ich also auf die nächsten Tage verschieben.
Da sonst keine Aktivität anstand, hockten wir uns in unser Zimmer. Noch nie zuvor hatte ich mein Zimmer mit so vielen unbekannten Mädchen teilen müssen. Bei einer Klassenfahrt kannte man die anderen ja bereits aus der Schule. Hier war das etwas ganz anderes.
Jede von ihnen hatte einen ganz eigenen Stil, sich einzurichten. Auf Nicoles Seite des Schreibtisches türmten sich nach und nach immer mehr Schreibsachen, Modebücher und sogar ihre Mappe. Außerdem besaß sie Unmengen an Malstiften, die ich in noch keinem Laden bei uns gesehen hatte. Waren wohl Profistifte. Abgesehen davon, dass ich selbst bei chronischer Modemachsucht solche Stifte nicht bekommen hätte, hätte ich die ganz gewiss nicht mitgenommen. Woher sollte man denn wissen, ob sich unter all den Campteilnehmern nicht auch irgendwelche Elstern befanden?
Carla war im Gegensatz zu Nicole die Königin des Klimbims. Sie verteilte nicht nur winzige Glasfigürchen und Deckchen auf jeder freien Stelle ihres Platzes. Sie hatte auch kleine Dosen mit Perlen und anderem Bastelkram mit. Außerdem einen rosafarbenen iPod in einer mit Glitzersteinen verzierten Box. Wollte sie damit etwa nach Nizza und Karl Lagerfeld beeindrucken? Als ich sah, dass sie einen Mosaikbausatz auspackte, fragte ich mich, ob sie hier mit bohrender Langeweile rechnete.
Anett hatte normale Malsachen dabei, ein Buch und einen alten Walkman, was sie mir noch sympathischer machte als sowieso schon. Außerdem packte sie eine Schachtel aus. Zuerst dachte ich, dass das noch etwas zum Basteln oder Malen sei, doch dann erkannte ich, dass es ein Spiel war. Eines, das ich das letzte Mal in der Grundschule gespielt hatte und das weggeschlossen worden war, nachdem sich zwei Mitschüler mit Chips beworfen hatten, weil einer dem anderen Betrug unterstellte.
»Na, hast du Lust?« Sie wedelte mit dem Vier-gewinnt-Spiel und deutete mit dem Daumen über die Schulter. »Wie du siehst, sind die anderen beschäftigt.«
Dass sie nicht erst bei Nicole oder Carla anfragte, schmeichelte mir irgendwie schon, also stimmte ich zu.
Während ich meine Chips einsammelte, fiel mir auf, dass ich die Einzige war, die nichts auf den Schreibtisch gestellt hatte. So, als wäre ich gar nicht eingezogen. Natürlich hatte ich Sachen dabei, ein paar Bücher aus der Bibliothek, das Briefpapier sowie meine Federmappe und immerhin auch meinen MP3-Player. Aber das konnte alles nicht mit den vielen bunten Dingen mithalten, die auf den Plätzen der anderen lagen.
Ein wenig schämte ich mich deswegen, aber bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, forderte mich Anett auf, endlich mit dem Spielen anzufangen, und ich warf meinen ersten Chip in einen der Schlitze.
Der Prinz aus dem Garten
Ich hätte mir nie träumen lassen, dass ein Sonnenaufgang so schön sein könnte. Die Sonne war ein dunkelroter Ball, der langsam aus dem orangefarbenen Lichtstreifen am Horizont aufstieg und den Himmel rosa färbte.
In der Stadt, auch in einer kleinen wie der unsrigen, musste sich die Sonne erst durch Dunst und über den zugebauten Horizont kämpfen, doch hier war die Sicht frei. Na ja, beinahe zumindest. Die Bäume des Schlossparks konnten es von der Höhe her durchaus mit einigen Häusern in unserer Stadt aufnehmen. Aber da unsere Zimmer ja im dritten Stockwerk lagen, konnte ich die Welt von oben betrachten, und die Sonnenstrahlen mussten nicht erst Hindernisse überwinden, um auf mein Gesicht zu fallen.
Ich wusste auch nicht, warum ich heute schon so früh auf den Beinen war. Vielleicht lag es an der ungewohnten Umgebung, vielleicht war aber auch Normans unausgesprochene Drohung daran schuld. Durch die Versuche, an Mona zu denken, drängte sich immer wieder sein fieses Grinsen. So ein Idiot! Hätte er seiner Mutter nicht sagen können, dass er nicht herkommen will? Warum musste ich leiden, nur weil seine Eltern aus ihm einen Künstler machen wollten? Bei dem war doch eh Hopfen und Malz verloren! Hätten sie ihn doch zu den Pfadfindern geschickt oder ins Rüpelcamp, zusammen mit
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