Kirschenküsse
Stoffberg.
»Tausendundeine Nacht!«, antwortete Anett wie aus der Pistole geschossen. »Ich weiß nur noch nicht, welche Farbe ich am besten finde!«
So eine leuchtende Farbe hatte schon auch etwas, aber ich hatte mich nun mal für Ivys Gothic-Look entschieden. Und jetzt noch einmal umschwenken hätte auch nicht mehr funktioniert, denn als ich den Hals reckte, sah ich, dass die Truhen bis fast auf den Boden geplündert worden waren.
Was den Zuschnitt anging, verteilte Frau Tizian ein paar Blätter, auf denen wir sehen konnten, wie ein Grundschnitt angefertigt wurde. Auf den ersten Blick sah das einfach aus, aber die Sache hatte so ihre Tücken. Immerhin sollte es nach dem Nähen noch passen und möglichst sollte auch kein Stoff verschwendet werden. Frau Tizian stand mit Rat und Tat zur Seite, doch letztlich war es an uns, abzumessen und zu entscheiden, welches Zuschnittteil wie groß werden sollte.
»Hätte ja nicht gedacht, dass du in diese Moderichtung gehst«, bemerkte Anett, als sie einen kurzen Blick zu mir hinüberwarf.
»Warum denn nicht?«
»Na ja, sonst ziehst du dich ja ziemlich bunt an und dein Entwurf sieht voll nach Gothic aus.«
»Ich brauche eben die Abwechslung!«, entgegnete ich.
Den ganzen Vormittag über beschäftigten wir uns mit dem Zuschnitt der Kleider und nach der Mittagspause ging es mit dem Zusammenstecken weiter. Einige von den Schnellen, darunter auch die erfahrene Nicole, waren sogar schon dabei, ihr Modell zu heften.
Ich war da schon froh, am Ende des Tages auf ein zusammenhängendes Gebilde blicken zu können. Und das sah nicht mal schlecht aus. Wie auch schon bei meinem Entwurf verweilte Frau Tizian bei ihrer Inspektionsrunde etwas länger bei mir, legte den Kopf schräg und sagte dann: »Wirklich gut. Dir muss die Mode im Blut liegen.«
Ich hätte schwören können, dass mich in dem Augenblick ein paar neidische Blicke erdolchen wollten. Aber Frau Tizians Lob war wie ein Schutzpanzer, an dem alles abprallte. Sogar Norman hätte mir jetzt die Zunge rausstrecken und wieder einen seiner Birnbaumsprüche vom Stapel lassen können, mir hätte das nichts ausgemacht.
Schließlich ging unsere Kursleiterin weiter, und nun gab es auch für andere Teilnehmer Lob, was mich doch ziemlich erleichterte. So trafen die Voodooflüche derjenigen, die leer ausgingen, nicht ausschließlich mich!
Der Frosch und die Geister
Als wir aus dem Seminarraum kamen, mit schmerzendem Rücken und zerstochenen Händen, verkündete uns Herr Heidenreich freudestrahlend, dass es heute eine Nachtwanderung durch den Park geben würde.
»Na ganz toll«, hörte ich Nicole stöhnen. »Das ist wirklich wie bei den Pfadfindern hier.«
»Warum haben wir das denn nicht gleich am ersten Tag gemacht?«, monierte Carla, auch wenn ich den Einwand nicht ganz verstand, aber bei Carla musste man auch nicht alles verstehen. »Und wer braucht überhaupt eine Nachtwanderung? Ist ja wie in einem schlechten Ferienlager hier.«
Anett lächelte nur wissend und ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Mir war es gleich, ob wir nun auf dem Zimmer saßen oder bei Dunkelheit durch den Park wanderten. Vielleicht führte uns der Reiseleiter ja ins Kirschenparadies. Die eine oder andere Kirsche würde bei Dunkelheit wohl drin sein.
Bevor es losging, schlenderte ich noch einmal durch den Park, in der Hoffnung, Thomas zu sehen. Irgendwo brummte noch der Rasenmäher, doch das Geräusch war zu weit vom Schloss entfernt. Neben dem Schlosskomplex standen ein paar Privathäuser, wahrscheinlich mähte dort jemand den Garten.
Nachdem ich Thomas am See nicht gefunden hatte, lief ich zum japanischen Garten. Vielleicht war er ja auch noch einmal dorthin gegangen, um noch ein paar Kirschen zu pflücken. Und wenn nicht, würde ich welche mitnehmen, als heimliche Verpflegung für die Nachtwanderung.
Was würde uns dabei wohl erwarten? Meine letzte Nachtwanderung hatte ich in der Grundschule gemacht, und da hatten ein paar unserer Betreuer versucht, uns als Räuber verkleidet zu erschrecken. Das hatte allerdings nicht besonders gut funktioniert, denn schon ein paar Tage zuvor hatten wir zufällig mitbekommen, wie die Räuberkostüme im Lehrerzimmer ausgepackt wurden. Sie stammten von einem Kostümverleih in der Stadt, der es sich nicht hatte nehmen lassen, einen dicken Firmensticker auf das Päckchen zu kleben.
Vielleicht wollten uns unsere Reisebetreuer mit Pappaufstellern berühmter Modeschöpfer ängstigen.
Ich hätte gern mit Thomas
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