Kirschenküsse
genäht und uns einige Wochen nach Ende des Sommercamps zugeschickt werden würden. Für die Prämierung des Modells reichte es, das Kleid zusammenzustecken beziehungsweise mit einem Heftstich zusammenzunähen.
Puh, das war wenigstens etwas!
Während Frau Tizian noch weiter redete, sah ich Norman mit seinem Sitznachbarn tuscheln und meine Wut auf ihn kochte erneut hoch. Beim morgendlichen Lauf hatte er es sich natürlich nicht nehmen lassen, Thomas wieder irgendwelche Spitznamen zuzurufen. Während mein Kirschverbündeter das ganz locker genommen und so getan hatte, als habe er es nicht gehört, war ich wütend geworden. Wie konnte sich Norman das herausnehmen!
Wenn Thomas gewollt hätte, hätte er ihn kopfüber in den See werfen können! Und insgeheim wünschte ich mir, dass er es getan hätte, das wäre ein Spaß geworden! Doch Thomas hatte nichts gesagt und mit seiner Arbeit weitergemacht. Wahrscheinlich hätte er Ärger bekommen, wenn er meinen Wunsch erfüllt hätte – oder es war ganz einfach ein Zeichen von Reife, was mir durchaus gefiel. Auch wenn Norman einen Seetauchgang in Klamotten mehr als verdient hätte.
Ich starrte immer noch auf seinen Hinterkopf und er schien meinen Blick zu spüren, denn er drehte sich um, sah mich und sein Gesicht verfinsterte sich. Eigentlich hatte ich vermeiden wollen, dass er sah, wie ich ihn anstarrte. Trotz meiner Wut wollte ich einfach gar nichts mit ihm zu tun haben. Da ich wusste, dass er mich nun wieder eine ganze Weile anglotzen würde, gab ich mich selbstsicher und setzte ein »Du kannst mir nichts«-Lächeln auf. Ich hoffte, dass er es auch so verstehen würde.
Als Frau Tizian genug über Stoffe doziert hatte, wurde die Jagd auf die Stoffrollen eröffnet. Da ich nicht gewillt war, mir die besten Stücke wegschnappen zu lassen, stürmte ich mit den anderen nach vorn.
Leider reihte sich Norman genau hinter mir ein.
»Sieh zu, dass du mit deinem Zinken nicht den Stoff zerpickst, Birnbaum«, raunte er mir zu. Ich wusste nicht, was schlimmer war − seine Nähe oder dass sein Atem meine Wange streifte. Ich hatte keine Ahnung, was er heute Morgen gegessen hatte, aber es roch sehr verdächtig nach Fisch. Das passte ja irgendwie!
»Halt die Klappe, Norman«, war das Einzige, was mir einfiel. Zugegeben, nicht besonders originell, aber ich sagte endlich mal was! Und es zeigte sofort Wirkung, denn er verstummte tatsächlich.
Dennoch fürchtete ich, dass er mir seine Knie in die Kniekehlen rammen oder mir ein Post-it mit »Tritt mich!« an den Rücken kleben würde.
Eine ganze Weile musste ich so ausharren, und im Stillen begann ich, mich über die Mädchen vor mir zu ärgern, die irgendwie nicht fertig werden wollten. Fast hätte ich einer von ihnen zugerufen, dass sie mal zu Potte kommen solle, als plötzlich ein Platz frei wurde und ich endlich von Norman wegkonnte.
Frau Tizian hatte eine riesige Auswahl an Stoffen. Alle möglichen Farben leuchteten mich aus der Truhe an. Jetzt wurde mir auch klar, warum diejenigen, die für das Camp bezahlt hatten, dreihundert Euro hinlegen mussten. Die Stoffe müssen wahnsinnig teuer gewesen sein! Da gab es roten Samt, beerenfarbenen Satin, blauen Chiffon und geblümte Baumwolle. Außerdem noch viele andere Stoffarten, deren Namen ich nicht kannte.
Jetzt bedauerte ich, dass ich keine andere Farbe für meinen Entwurf genommen hatte. Schwarz, Weiß und Rosa erschienen mir nun doch ein wenig langweilig. Dennoch entschied ich mich für Satin und einen Stoff, auf den ein samtiges Blumenmuster aufgeflockt war. Außerdem nahm ich noch etwas Tüll und ein paar rosafarbene Bänder.
Als ich mich mit meiner Beute auf dem Arm umwandte, war Norman zum Glück verschwunden. Er beugte sich gerade über die zweite Truhe mit den gröberen Stoffen, und so, wie er seinen Hintern in die Höhe reckte, packte mich das Verlangen, ihm einen Tritt zu versetzen, der ihn kopfüber in die Holzkiste schickte. Nach der Beinstellattacke am ersten Morgen hätte er es verdient gehabt.
Aber ich hielt mich zurück und ging mit meinen Stoffen zu meinem Platz zurück.
Ich hatte zwischendurch schon immer mal einen Blick auf Anetts Entwurf geworfen, aber ihre Stoffauswahl überraschte mich nun doch. Sie schien von jedem Stoff irgendwas mitgenommen zu haben. Die Farben strahlten um die Wette, und ich wusste beim besten Willen nicht, welchen davon ich zuerst anschauen sollte.
»Wie soll dein Outfit denn heißen?«, fragte ich und deutete auf den
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