Kirschenküsse
darüber gelästert, aber er war nirgends zu sehen. Wahrscheinlich war er an irgendeinem anderen Ende des Schlossparks oder machte es sich zu Hause auf dem Sofa bequem.
Obwohl er nun wirklich nicht wissen konnte, dass ich auf der Suche nach ihm war, machte ich enttäuscht kehrt. Ein gemeinsames Kirschgeheimnis machte uns noch nicht zu telepathisch kommunizierenden Freunden.
Als ich wieder in unser Zimmer kam, lag Nicole auf dem Bett, die Augen mit einer Schlafmaske bedeckt.
»Was ist denn mit ihr?«, fragte ich Anett, die gerade mit einer Taschenlampe herumspielte. Offenbar hatte sie auch geahnt, dass es eine Nachtwanderung geben würde. Unheimlich!
»Migräneanfall«, antwortete sie im Flüsterton.
Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ein so junger Mensch schon Migräne haben konnte. Meine Tante Elvira hatte Migräne, ehemalige Kolleginnen meines Vaters auch, aber Nicole?
»Sie schläft jetzt«, erklärte mir Anett. »Ich habe bei Herrn Heidenreich ’ne Schmerztablette für sie geholt. Unglaublich, was der so alles mitschleppt. Man könnte meinen, er ist der reinste Hypochonder.«
»Hypo-was?«
»Jemand, der sich alle möglichen Krankheiten einbildet und Medikamente dagegen nimmt. Ich glaube nicht, dass Herr Heidenreich wirklich das alles hat, was seine Medikamententasche einem glauben machen will.«
»Vielleicht wollte er auf alles vorbereitet sein, ordentlich wie er ist.«
»Na dann brauchen wir uns ja keine Sorgen zu machen, falls heute bei der Nachtwanderung jemand in eine Grube fällt, sich den Knöchel verstaucht, von Bienen gestochen und von Fledermäusen gebissen wird.«
Wir lachten so leise wir nur konnten, aber eigentlich war das gar nicht nötig, weil Carla wie eine Furie hereingerauscht kam. Durfte sie zu Hause auch die Tür so zuknallen? Offenbar stand sie mächtig unter Dampf. Hatte das was mit ihrem Entwurf zu tun?
»Ich fass es nicht!«, polterte sie, worauf wir versuchten, sie mit einem gemeinschaftlichen »Pssst!« zum Schweigen zu bringen.
Carla sah uns daraufhin an, als seien wir Außerirdische.
»Was denn?«
»An deiner Stelle würde ich etwas leiser sein!«, sagte Anett und stemmte die Hände auf die Hüften. »Siehst du nicht, dass es einer von uns nicht gut geht?«
Carla blickte sie ein wenig verwundert an, und erst als Anett auf Nicoles Bett deutete, schien ihr ein Licht aufzugehen.
»Was hat sie denn?«, fragte sie nun im Flüsterton.
»Migräne«, antwortete ich. »Also heb dir das Poltern für die Nachtwanderung auf, dann kannst du Fledermäuse und Gespenster damit vergraulen. Es gibt hier noch andere Leute außer dir, und dein Gemecker kann eh keiner mehr hören!«
Carla starrte mich an. Anett ebenso. Nicole stöhnte leise auf, doch die Stille, die dann folgte, hätte nicht perfekter sein können.
»Was ist dir denn über die Leber gelaufen?«, holte Carla schließlich aus. »Kriegst sonst nicht den Mund auf, aber mich machst du an?«
»Sch!«, machte Anett, doch davon ließ sich Carla nicht beeindrucken.
»Schau dich doch mal an mit deinen billigen Klamotten und deiner Frisur! Nur weil du mal gelobt wurdest, glaubst du jetzt, das Maul aufreißen zu können. In meiner Schule arbeitet so jemand wie du als Putze!«
In der Schule wäre es jetzt an der Zeit gewesen, wegzulaufen. Aber wie ich nun zum wiederholten Male feststellte, wollte ich hier nicht nur eine andere Sina sein, ich war auch eine andere Sina! Nicoles Migräne hin oder her, das war genug!
»Lieber als Putze arbeiten als ein eingebildetes Ekel sein wie du! Du mit deinen Barbieklamotten und deinem widerlichen Parfüm! Du hältst dich für was Besseres, aber das bist du nicht! Und die ganze Zeit über meckerst du rum − warum bist du dann überhaupt hergekommen? Du solltest dich am besten wieder von deinem Papa abholen lassen, Prinzesschen, dann haben wir unsere Ruhe!«
Carla stand der Mund weit offen. Fliegen hätten ihr jetzt geradewegs in den Rachen fliegen können!
Ich war ja selbst von mir überrascht. Klar, ich hätte noch ganz andere Sachen zu ihr sagen können, aber für dieses Mal war es wohl nicht schlecht. Allerdings war ich nicht so abgebrüht, jetzt cool weiterzumachen. Mein Magen kniff, mein Herz pochte und vor meinem inneren Auge sah ich tausend Möglichkeiten, wie sich Carla an mir rächen könnte.
Anstatt mich aber noch weiter zu beleidigen oder etwas anderes zu tun, schaute sie mich nur kurz grimmig an und huschte dann zum Schrank, um sich an ihrem Kleiderfundus zu bedienen.
Anett
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