Kirschenküsse
es bereits gesehen hatte.
Als ich ihn schließlich wieder ansah, lächelte er immer noch, und um mich nicht weiter in Verlegenheit zu bringen, sagte er: »Hier entlang«. Er deutete auf das Gestrüpp vor uns, das auf den ersten Blick aussah, als verstecke sich das Dornröschen dahinter. Nur dass es keine Rosen gab.
»Warum ist das Gebüsch hier eigentlich so dicht?«, fragte ich, als wir uns hindurchkämpften. Insgeheim hoffte ich ja, dass er wie Indiana Jones eine Machete zücken würde. Aber so gut auf alles vorbereitet war er dann doch nicht und wir mussten uns mit den Händen behelfen.
»Weil der Schlossherr es so will«, beantwortete Thomas meine Frage. »Er hat beschlossen, dass das hier ein Biotop werden soll, in das sich Tiere zurückziehen können. Früher liefen Rehe und Füchse durch den Schlosspark, selbst als er bereits angelegt war. Jetzt fährt mein Vater die großen Rasenflächen mit einem Mähtraktor ab, was natürlich viele Tiere verscheucht.«
Hatte ich doch richtig vermutet, dass Thomas mir etwas vom Schloss erzählen würde. Doch so etwas stand natürlich nicht in irgendwelchen Prospekten, die Anett ständig wälzte. Da konnte ich ihr mal was erzählen. Dann müsste ich ihr allerdings auch erzählen, woher beziehungsweise von wem ich das wusste …
»Richtig öko der Schlossherr, was?«, sagte ich.
»Ja, das ist er. Er setzt sich sehr für die Vögel, die hier nisten, ein und auch für die Tiere im Unterholz. Aber das ist nicht der Grund, warum ich dich herführe.«
Er grinste wieder und machte mich nun richtig neugierig.
»Gibt es hier vielleicht irgendein Geheimnis?«, fragte ich weiter. »Einen Schatz oder irgendeine geheime Gruft?«
»Nein, die Gruft liegt unter dem Schloss«, entgegnete Thomas. »Außerdem wurden alle höheren Mitglieder des herzoglichen Hauses in Kirchen begraben. Nur die, wenn man so sagen will, Familienmitglieder zweiten Ranges kamen in die Gruft.«
»Und was ist es dann?«
»Das wirst du gleich sehen!«
Wir gingen noch ein Stück weiter, und ich hoffte insgeheim, dass wir vielleicht irgendeines der genannten Tiere zu sehen bekamen. Ein Reh in freier Wildbahn hatte ich noch nie gesehen. Doch außer einem Rascheln, das hier und da ertönte, gab es nichts, was auf Lebewesen hindeutete.
Schließlich erreichten wir unser Ziel.
Zunächst hielt ich die Säulen, die zwischen den Bäumen aufragten, für weitere Bäume. Doch dann erkannte ich, dass sie zu einem alten Pavillon gehörten. Er war ziemlich groß und nicht offen, wie man sie heute kannte. Vielmehr sah er aus wie ein kleines Häuschen.
»Da wären wir. Diesen Pavillon hatte der Herzog als Rastplatz für Jagdgesellschaften errichtet«, erklärte Thomas fachkundig. »Früher machte er mit seinen Freunden und Bekannten hier halt, nachdem Wildschweine oder Füchse erlegt wurden. Dann wurde hier gewürzter Wein und Schwein am Spieß serviert.«
Während Thomas erzählte, blickte ich an den Säulen hinauf. Der Pavillon bestand aus weißen Steinen und wirkte irgendwie antik. Ich konnte gut verstehen, dass ihn der Schlossherr lieber vor den Touristen schützen wollte. Sonst hätte er ihn ja versetzen lassen können, so etwas war heutzutage bequem möglich.
»Und was ist jetzt damit?«, fragte ich. »Dient der Pavillon als Kuschelplatz für Pärchen?«
»Könnte man beinahe so sagen«, antwortete Thomas, und als mir klar wurde, was ich mit meiner Frage angerichtet hatte, wurde ich knallrot. »Allerdings nicht so, wie du vielleicht denkst.«
Damit zog er ein Schlüsselbund aus der Tasche seines Overalls. Mit diesem öffnete er das Gitter, das vor der großen Pavillontür angebracht war. Wahrscheinlich wollte man damit verhindern, dass Unbefugte, die entweder mit Absicht oder aus Versehen hierher gelangten, einfach so hineinkamen.
»Jetzt sei so leise wie möglich, wir wollen die Bewohner nicht aufschrecken.«
Bewohner? Ich hätte am liebsten nachgefragt, aber wahrscheinlich hätte mir Thomas darauf auch keine Antwort gegeben.
Als ich in den Pavillon eintrat, stellte ich als Erstes fest, dass es hier unheimlich hallte. Ich hätte erwartet, dass es hier noch einige Möbelstücke zu sehen gab, aber Fehlanzeige. Sämtliche Fenster waren vernagelt, lediglich ein kleines Licht an der Decke spendete etwas Helligkeit. Die reichte aber nicht aus, um dem Pavillon seine Geheimnisse zu entlocken.
Aber wie sich herausstellte, war Thomas’ Overall der reinste Werkzeugkasten. Aus seiner Brusttasche zog er eine
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