Kirschenküsse
Taschenlampe in Miniaturformat. So etwas hatte mein Vater früher mal an seinem Autoschlüssel hängen. Der Lichtstrahl war unvermutet hell, und ich fragte mich nun, wen er hier mit Bewohnern gemeint hatte. Vielleicht ein paar süße Igel oder Hasen?
Anstatt auf den Boden leuchtete er aber zur Decke.
»Schau genau hin«, flüsterte er mir zu.
Das tat ich, und obwohl es im ersten Moment so erschien, als sei da nichts, entdeckte ich schließlich kleine Pelzgebilde, die wie Zapfen von der Decke hingen.
»Fledermäuse!«, platzte es aus mir heraus.
»Genau! Hier hat die Kleine Hufeisennase ihren Unterschlupf. Ursprünglich wollte der Schlossherr diesen Pavillon modernisieren und an den Park anschließen lassen, aber dann kam heraus, dass hier schon seit vielen Jahren eine Fledermauskolonie nistet. Da hat er sich entschlossen, ihnen das Häuschen zu überlassen.«
»Und wie viele sind das?«, fragte ich, denn obwohl das Taschenlampenlicht recht stark war, reichte es nicht aus, um zählen zu können.
»Etwa dreißig oder vierzig. Bald vielleicht schon ein paar mehr. Hast du schon mal eine Babyfledermaus gesehen?«
»Nein, woher denn?«, gab ich zurück.
»Letztes Jahr kamen ein paar Naturschützer hierher, die sich die Tiere ansehen wollten. Unter anderem waren auch ein paar Babys dabei. Ich durfte den Behälter halten, in dem sie steckten, während ihre Mütter gewogen und mit kleinen Ringen versehen wurden. Die waren richtig niedlich, wie lebende Batman-Anstecker.«
Das hätte ich auch gern gesehen! Für die meisten Leute waren Fledermäuse noch immer Schreckgespenster – für Anett zum Beispiel. Ich fand sie schon immer toll, und das nicht erst, seit ich den Kleinen Vampir gelesen hatte. Als Kind hatte ich sie für Vögel gehalten, bis mir Mama erklärte, dass es fliegende Säugetiere waren und dass zum Beispiel in Australien Arten lebten, die eine beträchtliche Flügelspanne hatten.
Meine Oma hatte immer gesagt, dass man stets die Haare zusammengebunden tragen sollte, wenn man abends noch im Freien unterwegs war. »Wenn sie dir ins Haar geraten, bekommst du sie nie wieder raus und dein ganzes Haar muss abgeschnitten werden.« Das wollte ich auf keinen Fall, daher trug ich von da an abends immer ein Kopftuch. Bis ich herausfand, dass es in unserer kleinen Stadt keine Fledermäuse gab.
Die Warnung meiner Oma fiel mir aber sofort wieder ein und so wurde mir beim Anblick der vielen Fledermäuse doch ein wenig mulmig zumute.
»Werden sie nicht wach, wenn man sie anleuchtet?«, fragte ich und fixierte die Fledermäuse mit meinen Augen, als könnte ich sie auf diese Weise dazu bewegen, dort zu bleiben, wo sie waren.
Thomas war bewundernswert ruhig. »Nein, das tun sie nicht. Überhaupt haben sie recht schlechte Augen. Sie orientieren sich eher durch Schallwellen. Wie bei einem Echolot, das es in U-Booten gibt.«
Ich fand das alles ziemlich faszinierend. Noch besser war jedoch, dass Thomas beim Reden ein wenig näher an mich herangerückt war. Jetzt hatte ich wieder seinen Grasduft in der Nase und bildete mir sogar ein, die Wärme, die von ihm ausging, zu spüren.
Eine Weile standen wir nebeneinander, ohne dass einer von uns etwas sagte. Aber das war in Ordnung so.
»Wir sollten jetzt besser wieder gehen«, sagte Thomas schließlich.
»Werden die Fledermäuse jetzt doch wach?«, fragte ich unbehaglich.
Thomas schüttelte den Kopf. »Nein, keine Bange. Eine Marschkapelle sollte nicht gerade unter ihnen spielen, da würden die Schallwellen sie wecken. Aber unsere kleinen Stimmen schaffen das nicht.« Er sah mich nun unverwandt an, sodass mir wieder heiß und kalt zugleich wurde. Und dabei sagte er lediglich: »Ich wollte nur, dass wir gehen, weil mein Vater sich sicher schon fragt, wo ich bin. Ich bin schon eine ganze Weile von meiner Arbeit weg und ich soll noch die Hecken im Schlossgarten schneiden.«
»Aber die sehen doch alle gut geschnitten aus!«, platzte es aus mir heraus. Ich wollte ihn nicht schon wieder gehen lassen.
»Die im Schlosspark ja, aber nicht die im Schlossgarten. Ich meine den mit der Grotte, da gibt es einen Unterschied.«
»Gehen wir auch mal zusammen zur Grotte?«, fragte ich, als wir den Pavillon wieder verließen.
»Kannst du dich denn abends aus deinem Zimmer loseisen?«, fragte er zurück.
»Hm, ich denke schon irgendwie, aber warum denn abends?«, wollte ich wissen.
»Weil dann keine Touristen darin herumstehen und knutschen. Dann wären nur wir beide da und könnten uns
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