Kirschenküsse
wir keine Karte haben?«
»Sie könnten fragen.«
»Schon, aber eigentlich kommt hier niemand am Kartenabreißer vorbei. Dass er nicht hier ist, ist ja nicht unser Problem, oder?« Damit zog ich Anett weiter, bis wir schließlich vor der Latschenkiste standen. Noch immer war niemand zu sehen, auch die Latschenfrau schien Mittagspause zu haben.
Sollten wir unsere Schuhe tauschen oder nicht?
Anett machte mir einen Vorschlag. »Vielleicht ziehen wir uns die Puschen über und nehmen unsere Schuhe mit. Im Falle einer Flucht können wir einfach aus den Latschen springen und in unseren eigenen Schuhen weiterrennen.«
Das klang hervorragend, genau so machten wir es.
»Eigentlich könnte man auf den Latschen gut schlittern«, bemerkte Anett und glitt wie auf einer Eisbahn nach vorn.
»Lass das lieber bleiben«, entgegnete ich. »Wenn wir uns so unauffällig wie möglich benehmen, wird keiner auf die Idee kommen, uns nach unseren Eintrittskarten zu fragen.«
Nachdem wir den großen Festsaal durchquert hatten, schlichen wir durch die angrenzenden Räume.
Das Herz klopfte mir bis zum Hals. Es war beinahe unheimlich, wie gut alles klappte. Wir trafen zwar auf einen Wärter, doch der guckte in die Luft und tat so, als seien wir nicht da. Wahrscheinlich verließ er sich darauf, dass der Kartenabreißer seine Arbeit getan hatte.
Schließlich kamen wir zur Ahnengalerie. Vor deren Tür stand ebenfalls niemand. Dennoch schlichen wir uns vorsichtig in den Raum und blickten uns nach allen Seiten um.
»Welches Bild willst du fotografieren?«, fragte Anett, während sie ihren Blick über die Bilder schweifen ließ.
»Das mit dem schwarz-weißen Kleid.«
»Aha.«
Na das klang ja nicht gerade begeistert!
»Deine Freundin ist ein wenig Gothic drauf, nicht wahr?«
Ich nickte. »Ja und nein. Sie hat eine Mutter, die einen ziemlich krassen Farbgeschmack hat, und will sich von ihr abheben. Also trägt sie Schwarz und nimmt in Kauf, dass sie von den anderen Emo genannt wird.«
Ein Lächeln zog über Anetts Gesicht. »Tja, man hat es nicht leicht, wenn man etwas Besonderes ist. Ich möchte nicht wissen, was sich die Jungs, die am Modekurs teilnehmen, zu Hause anhören müssen. Ich weiß genau, was unsere Jungs zu denen sagen würden.«
Ich wusste das auch. Vielleicht war das auch der Grund, warum Norman tat, was man von ihm als Cliquenking erwartete.
»Ich finde es jedenfalls klasse, dass du zu deiner Freundin stehst«, fügte Anett bewundernd hinzu. »Na dann los, schieß dein Foto.«
Ich zog mein Handy hervor und versuchte, auch weiterhin fröhlich zu wirken, aber in Wirklichkeit war mir auf einmal ganz flau zumute.
Nicht so sehr wegen Norman, bei dem war es mir egal, ob ihn jemand beschimpfen würde. Aber ein wenig wegen Ivy. In der Schule hatte ich gar nicht mit ihr geredet, aus Angst, die anderen könnten mich für uncool halten. Ich hatte geglaubt, dass es reichen würde, wenn ich ein Bild für sie schoss und es ihr dann nach den Ferien gab. Jetzt bezeichnete ich sie als meine Freundin, was sie eigentlich gar nicht war, und ich gehörte bis vor Kurzem auch zu denen, die sie Emo nannten.
Vielleicht sollte ich mir wirklich mal einen Moment Zeit nehmen und über alles nachdenken.
Doch jetzt brauchte ich erst mal das Foto!
Während sich Anett umsah, versuchte ich, die Dame in Schwarz ins Visier zu bekommen. Das war gar nicht so einfach, denn ich hatte ja nur meine Handykamera, die so etwas wie Helligkeitsausgleich nicht zustande brachte. Alles, was ich zunächst sehen konnte, war eine dunkle Fläche, in der gespenstisch ein blasser Kopf auf einem weißen Kragen schwebte.
»Wenn doch hier bloß mehr Licht wäre«, maulte ich und versuchte, an den Einstellungen des Handys etwas zu ändern. Doch was ich auch tat, die Qualität des Bildes wurde nicht besser. So ein Mist.
Aber Ivy wusste ja, dass ich keine andere Kamera besaß, da musste sie leider mit der schlechten Qualität leben. Die Geste zählte doch, oder?
Ich hob also das Handy an und wollte schon abdrücken, da polterte es hinter uns und eine Frauenstimme donnerte: »Keine Fotos hier drin!«
Erschrocken wirbelte ich herum und erkannte die Frau als diejenige, die auch schon beim letzten Mal böse Blicke an unsere lärmende Horde verteilt hatte.
Anett und ich erstarrten. Warum hatten wir die Frau nicht kommen hören? War sie vielleicht aus einer der großen geschnitzten Truhen gesprungen, die vor den Türen standen? Auf jeden Fall war meine Zimmergenossin genauso
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