Kirschroter Sommer (German Edition)
Notenblätter heraus. Als im Hintergrund die Band Orishas ertönte, musste ich schmunzeln. Bei seinem Besuch in meiner Kneipe war genau dieselbe CD gelaufen und anscheinend dachte er, damit Eindruck schinden zu können. Von der Erinnerung an diesen Abend wurde ich allerdings ziemlich schnell abgelenkt, weil etwas anderes meine volle Aufmerksamkeit erweckte. Unter diversen Papierblättern spitzte ein Buch hervor, das ich vorsichtig herauszog.
»Elyas?«, fragte ich und starrte auf das Buch, als handelte es sich um eine optische Täuschung.
»Hm?«, entgegnete er und kam auf mich zugelaufen.
Noch immer starrte ich auf den Namen des Autors und klappte das Buch schließlich auf, um sicher zu gehen, dass der Einband keinen Fehldruck hatte. Ich fand nicht nur die Gewissheit, wahrhaftig ein Werk von Edgar Allan Poe in den Händen zu halten, sondern zusätzlich Unmengen an Notizen, die Elyas sich gemacht und überall zwischen die Seiten geklemmt hatte.
»Du liest Poe?«, flüsterte ich.
Zweifelsohne hielt ich Elyas für intelligent, aber Poe zu lesen hatte nichts mit Intelligenz zu tun. Vielmehr brauchte man ein gewisses Feingefühl für diese Geschichten – ein Feingefühl, das ich ihm niemals zugetraut hätte.
»Ehm … ja«, meinte er. »Manchmal.« Er versuchte zu lächeln und nahm mir das Buch aus der Hand. Fast schon hastig verstaute er es in einem Regal, wobei er mir länger als nötig den Rücken zuwandte.
»Ist dir das peinlich?«, fragte ich vorsichtig.
»Nein«, sagte er, und drehte sich um. »Wieso sollte es?«
Meine Stirn legte sich mehr und mehr in Falten.
»Gefällt dir die Musik?«, fragte er ablenkend.
Nur verzögert ging ich darauf ein. »Ja.« Ich wusste nicht warum, aber anscheinend war es ihm wirklich peinlich. Und es dauerte nicht lange, da fiel mir wieder seine Aussage von vorhin ein: » Es gibt so einiges von mir, was du nicht weißt. « Nie hätte ich gedacht, dass sich seine Worte so schnell bewahrheiten würden. Ich hätte mit allem gerechnet, aber sicher nicht damit. Mein Zufallsfund passte rein gar nicht in das Bild, das ich bisweilen von Elyas gehabt hatte. Erst war da seine unerwartete Fürsorge nach dem Unfall gewesen, nun sah er auch noch Filme, die ich gerne mochte, hörte Musik, die mir gefiel und las Bücher, die ich liebte.
Es war komisch, doch wenn ich Elyas jetzt anschaute, sah ich nicht mehr den gleichen Menschen wie noch drei Wochen zuvor. Irgendetwas hatte sich verändert.
Ich konnte leider nicht leugnen, dass Elyas schon seit je her eine gewisse Wirkung auf mich ausübte. Doch bislang hatte ich das allein seinem unverschämt guten Aussehen zugeschrieben. Es war nicht leicht, seinen türkisgrünen Augen und seinem hübschen Gesicht zu widerstehen – von dem Rest seiner Erscheinung ganz zu schweigen.
Aber solange die von ihm ausgehende Anziehungskraft auf sein Äußeres reduziert gewesen war, hatte ich keine Probleme damit gehabt, standhaft zu bleiben. Meine Augen ließen sich vielleicht blenden, doch mein Verstand war nicht so leicht zu täuschen. Sollte ich jetzt allerdings auch noch anfangen, mit seinem Charakter zu sympathisieren, hatte ich definitiv ein ernsthaftes Problem …
Elyas setzte sich auf das Sofa und tat einfach so, als hätte es den kleinen Vorfall nicht gegeben. Stattdessen erzählte er mir von seinem letzten Konzertbesuch. Ich begab mich ebenfalls auf die Couch, überschlug die Beine und wandte ihm leicht den Oberkörper zu. Er hatte seinen Arm auf der Lehne und sein Bein angewinkelt vor sich auf dem Polster liegen. Der Abstand zwischen uns war genau richtig. Ich konnte nur hoffen, Elyas würde nicht doch noch auf die Idee kommen, ihn zu verringern.
Ich hörte ihm aufmerksam zu und allmählich verfielen wir in ein Gespräch. Ein erstaunlich Normales für unsere Verhältnisse. Es war bei weitem nicht so unangenehm, sich mit ihm zu unterhalten, wie ich es mir vorgestellt hatte. Nicht zuletzt, weil er für die Dauer von über zwanzig Minuten nicht ein einziges Mal den Versuch startete mich anzugraben. Das war definitiv ein neuer Rekord.
Elyas hatte Ahnung von Musik, das merkte man. Und bei vielen Bands teilten wir – was ich bereits durch meine damalige Schnüffelaktion herausgefunden hatte – den gleichen Geschmack.
Als eine kurze Pause einkehrte, nippte ich an dem süßen Wein, und Elyas stand auf, um zu seinem Schreibtisch zu laufen. Er holte einen kleinen Gegenstand aus einer Schublade und setzte sich anschließend wieder in gleicher Haltung
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