Kirschroter Sommer (German Edition)
ich den Kopf in meine Ordner und Unterlagen und zog ihn dort erst wieder raus, als nach zwei Stunden das Telefon klingelte. Alena erwartete mich am anderen Ende der Leitung und weil ihre Stimme die Letzte war, mit der ich in diesem Moment gerechnet hatte, freute ich mich doppelt. Es war jedes Mal so unglaublich angenehm mit ihr zu sprechen und im Vergleich zu meiner Mutter durfte ich bei ihr sogar ausreden. Ich wusste diesen Luxus wahrlich zu schätzen.
Wie immer verquatschten wir uns und die Zeit verging wie im Flug. Es bedurfte fünf Anläufe, bis wir es tatsächlich schafften, das Gespräch zu beenden und aufzulegen. Weil es schon spät war und ich am nächsten Morgen wieder früh aufstehen musste, ging ich gleich ins Bad und machte mich bettfertig.
Doch als ich schließlich unter meiner Bettdecke lag, war an Schlaf leider nicht zu denken. Immer noch spukte mir Lucas letzte Mail durch den Kopf.
»Eigentlich hatte ich die Hoffnung längst aufgegeben und ich kenne dich leider zu wenig, um das richtig einschätzen zu können … Aber sagen wir so, du bist die erste Frau seit langem, bei der ich es mir zumindest vorstellen könnte.«
Warum schrieb er so etwas? Da ich der weiblichen Gattung angehörte, musste er doch damit rechnen, dass ich ziemlich hellhörig darauf reagierte.
War es tatsächlich sein voller Ernst gewesen? Oder hatte er das eher beiläufig geschrieben und ich legte eine viel zu große Bedeutung in seine Worte?
In einem hatte er jedenfalls Recht: Wir kannten uns kaum. Komischerweise hielt mich das jedoch nicht davon ab, ihn trotzdem schon zu mögen. Am Anfang waren es nur Nachrichten gewesen, die mir ein Unbekannter schrieb und die ich nicht wirklich ernst nehmen konnte. Luca hatte auf mich eher wie ein großes schwarzes Loch gewirkt, statt wie ein leibhaftiger Mensch. Doch inzwischen erwischte ich mich immer wieder dabei, wie ich mir den Menschen hinter den E-Mails vorstellte und ihn auch als solchen wahrnahm.
Luca war für mich real geworden. Aber wie ernst ich ihn und unseren Briefverkehr tatsächlich nehmen konnte, wusste ich noch nicht genau. Eigentlich war er ein komplett Fremder für mich. Papier war schließlich geduldig; er konnte mir in den E-Mails alles weismachen – deswegen musste es noch lange nicht der Wirklichkeit entsprechen.
Aber angenommen, es wäre die Wahrheit. Was dann? Welchen Platz könnte Luca in meinem Leben einnehmen? Wäre er ein potenzieller Partner für mich? Oder würde es, wenn überhaupt, auf eine Freundschaft hinauslaufen?
Und anders gefragt: War ich überhaupt bereit für eine Liebesbeziehung? Immerhin ging es mir momentan sehr gut, was ein Zustand war, den man nicht allzu leichtfertig aufs Spiel setzen sollte.
»Ich persönlich habe einen Unterschied zwischen Liebe und Liebe nicht kennen gelernt. Ich war es nur zweimal richtig.«
Woher wollte er das wissen? Wer sagte ihm denn, dass er die Liebe, die er erfahren hatte, als richtige bezeichnen konnte, wenn er doch keinerlei Vergleich besaß? Vielleicht war er in seinem Leben noch kein einziges Mal wirklich verliebt gewesen und wusste es nur nicht, weil er davon ausging, dass es nichts Höheres gab?
Doch diese Theorie wurde ziemlich schnell hinfällig. Denn ich realisierte, dass ich keine meiner anderen Beziehungen gebraucht hätte, um zu wissen, dass es sich bei mir damals um richtige Liebe gehandelt hatte. Ich hatte es einfach gespürt. Unabhängig davon, ob ich eine Vergleichsmöglichkeit besessen hatte oder nicht – ich wusste es.
Sollte ich mich allerdings irren und es gab doch noch eine Steigerung meiner damaligen Empfindungen, dann konnte ich nur beten, das niemals erleben zu müssen. Ein Spaziergang durch die Hölle reichte mir aus, um sicher zu gehen, dass ich diesen Ort nie wieder betreten wollte. Am eigenen Leib die abgründigen Schattenseiten der Liebe erfahren zu haben, ließ mich sogar infrage stellen, ob die leider oft nur knapp bemessenen Hochgefühle es wert waren, sich dieser Gefahr überhaupt auszusetzen.
Was auch immer sich zwischen mir und Luca entwickeln sollte, ich würde gewiss nichts überstürzen. Eigentlich war es ohnehin noch viel zu früh, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Aber mein Kopf war eine Sache für sich.
Ich drehte mich auf den Rücken, streckte die Arme neben mir aus und seufzte. Was in aller Welt sollte ich ihm nun antworten? Natürlich würde ich schreiben, dass ich ihn trotz dieses Geständnisses nicht für einen Psychopathen hielt – dennoch sagte mir mein
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