Kirschroter Sommer (German Edition)
Hände waren in meinem Schoß vergraben, mein Blick war leblos in die dunkle Nacht gerichtet. Ich verharrte schon seit einer Ewigkeit in dieser Position. Die Finsternis jenseits der Scheibe wirkte so leer wie das dumpfe Gefühl in meinem Kopf.
Irgendwann hatte ich Elyas darum gebeten, Musik anzuschalten, weil ich diese alles vernichtende Stille nicht mehr hatte ertragen können. Ich war nicht in der Lage, mich mit ihm zu unterhalten, hatte aber irgendein Geräusch gebraucht, auf das ich mich konzentrieren konnte.
Immer noch wartete ich verzweifelt auf den Rückruf von Ingo. Elyas hatte versucht mich zu beruhigen, indem er sagte, dass sein Vater sicher noch nichts Genaueres in Erfahrung hatte bringen können. Aber auch wenn ich nach außen hin so tat, hatten seine Worte nicht die geringste Wirkung auf mich. Und obwohl Elyas sich große Mühe gab, es zu verbergen, merkte ich doch, dass auch er bei weitem nicht so zuversichtlich war, wie er tat. Mit jemanden im Auto zu sitzen, den man vielleicht in naher Zukunft eine schlechte Nachricht überbringen müsste, war wahrscheinlich auch kein leichtes Los.
War die Nacht schon immer so dunkel gewesen? Die Schwärze rauschte an uns vorbei und wir schienen mit jedem Meter mehr darin zu verschwinden.
Im Gegensatz zu Elyas‘ Handy hatte meins bereits drei Mal geklingelt. Alena, von Elyas nächtlichen Anruf ebenfalls geweckt worden, war die erste gewesen. Sie kam schier um vor Sorge, und ohne sie zu sehen wusste ich, dass sie mit einer Tasse Kaffee im Wohnzimmer saß und neben dem Telefon wachte. Alena war eine Seele von einem Menschen. Und egal, wie sehr ihr die Schreckensnachricht selbst zugesetzt hatte, ihr Hauptanliegen war trotzdem darin gelegen, mir gut zuzureden.
Leider hatte ich ihr nicht zeigen können, wie dankbar ich für ihren Anruf war, doch irgendwann würde ich das nachholen.
Alex war die zweite gewesen. Sie hatte die Nachricht auf dem Anrufbeantworter abgehört und mich sofort zurückgerufen. Das war einer der seltenen Momente gewesen, in denen Alex die Worte gefehlt hatten. Noch nie hatte ich mir ihr stetiges Geplapper so sehr zurück gewünscht wie heute.
Kurz darauf, nur wenige Minuten später, war Eva in der Leitung gewesen. Sie hatte sich große Vorwürfe gemacht, dass sie ausgerechnet an diesem Abend ihr Handy ausgeschaltet hatte und meiner Mutter und mir alles nur erdenklich Beste gewünscht.
Ich war für alle drei ein schlechter Gesprächspartner gewesen. Wie ein Band hatte mein Mund die wenigen Informationen über den Unfall runtergerattert und wie ein Sieb hatte mein Kopf die Worte der Anrufer aufgenommen.
Allmählich tauchten vor dem Fenster die ersten Straßenschilder auf, die auf Neustadt hinwiesen. Meine Hände verkrampften sich ineinander. Die Sekunden verstrichen quälend langsam und doch schien mir die Zeit unaufhaltsam durch die Finger zu rinnen. Der rettende oder alles zerstörende Anruf von Ingo kam einfach nicht.
Ich spürte Elyas‘ Blick auf mir ruhen. Wahrscheinlich wünschte er sich, dass ich mit ihm redete, um die Stille zu brechen. Doch ich konnte nicht.
Und dann passierte es. Das Geräusch, auf das ich so lange gewartet hatte, ertönte wie aus dem Nichts. Elyas‘ Handy klingelte. Mein Herz setzte aus, bevor es auf einmal die doppelte Geschwindigkeit aufnahm und zu rasen begann. Jetzt, wo es soweit war, wusste ich nicht, ob die Ungewissheit vielleicht doch besser gewesen war als eine Nachricht, die ich nicht hören wollte.
Ich richtete meinen Blick auf Elyas, den das Klingeln kurzzeitig alle Gesichtszüge entgleiten ließ. Doch im Gegensatz zu mir fing er sich wieder. Er räusperte sich und nahm das Gespräch entgegen.
»Ja?«
Stille.
»Aha …«
»Hm.«
»Gut.«
Ich hing an seinen Lippen, klebte regelrecht daran und wünschte, sie würden mir auch nur den kleinsten Hinweis geben. Vielleicht ein leichtes Zucken, das auf gute Neuigkeiten hindeutete – irgendetwas. Aber dem war nicht so.
»Nein, wir sind in ein paar Minuten dort.«
»Okay, danke.«
»Tschüss.«
Elyas legte auf, und es vergingen gefühlte Stunden, bevor er endlich zu mir rüber sah. Mama darf nicht tot sein , wiederholte ich immerzu in meinen Gedanken, bis Elyas schließlich ansetzte. »Deine Mutter hat die Operation gut überstanden und Ingo klang sehr zuversichtlich.«
Ich starrte ihn an und wusste nicht, ob ich tatsächlich richtig gehört hatte oder ob sich mein Wunschdenken nur einen Streich mit mir erlaubte. »Sie … Sie … wird … es
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