Kirschroter Sommer (German Edition)
mir dennoch plötzlich bewusst: Ich musste nach Neustadt. Und zwar sofort.
Irgendetwas in mir übernahm auf einmal die Führung, so als hätte sich eine Art Noterhaltungstrieb eingeschaltet, der in Extremsituationen die Steuerung für mich handhabte. Wie in Trance wandte ich mich meinem Laptop zu und öffnete das Internet, um Zugverbindungen herauszusuchen. Meine zittrigen Finger vertippten sich einige Male und ich verlor die Geduld. Warum zum Teufel besaß ich kein Auto, verdammt? Es kam mir vor, als dauerte es schier unendlich, bis die Seite meine Anfrage bearbeitet hatte, und als das Ergebnis kam, versetzte es mir regelrecht einen Schlag. Der erste Zug fuhr erst um 05:38 Uhr.
Auch wenn ich in diesem Moment rein gar nichts wusste, spürte ich dafür wie niemals etwas zuvor in meinem Leben, dass ich keine fünf Stunden warten konnte. Ich wollte zu meiner Mutter. Die Vorstellung, dass es ihr schlecht ging und ich nicht bei ihr war, ließ meinen Magen wie einen Muskel verkrampfen. Ich musste zu ihr. Eine Alternative gab es nicht.
Nicolas!, fiel es mir plötzlich ein. Er hatte ein Auto. Im Normalfall würde ich niemals jemanden bitten, mich nachts eine hundertfünfzig Kilometer lange Strecke zu fahren, doch es war auch kein Normalfall. Ich war schon dabei, seine Nummer zu suchen, als mir wieder dämmerte, dass er sein Handy vor ein paar Wochen verloren hatte. Und seine Festnetznummer, wenn er überhaupt eine besaß, kannte ich nicht.
Aber Eva war bei ihm!
Ohne zu zögern sprang ich auf und suchte nach meinem Handy, das sich auf dem Bett fand. Zitternd klickte ich mich durchs Adressbuch. Ich wartete darauf, endlich ein Freizeichen zu hören, doch stattdessen empfing mich lediglich die Mailbox.
»Eva, hier ist Emely … Meine … Eltern … Sie hatten einen Unfall. Kannst du mich bitte so schnell es geht zurückrufen?«
Ich legte auf.
Was sollte ich jetzt nur tun? Ich fuhr mir mit den Händen durch die Haare und verweilte darin. Ich war so unglaublich machtlos und gleichzeitig dominierte mich das Gefühl, irgendetwas tun zu müssen.
Alex! Genau, ich musste Alex anrufen. Sie hatte zwar kein Auto, aber vielleicht konnte sie vorbeikommen und … Ich wusste nicht »und was«. Ich wollte einfach nur, dass sie bei mir war.
Während sich die Leitung aufbaute, schritt ich unentwegt in meinem Zimmer auf und ab. Doch anstatt ihrer Stimme, hörte ich nur eine blecherne: »Der gewünschte Gesprächspartner ist vorübergehend leider nicht zu erreichen …« Ich wartete nicht das Ende ab und legte auf.
»Warum verdammt noch mal hat ausgerechnet heute jeder sein Handy aus?«, fluchte ich und warf es zurück aufs Bett. Da fiel mir ein, dass Alex ja im Kino war! Möglicherweise war sie inzwischen schon wieder zu Hause und hatte nur versäumt, ihr Handy wieder anzuschalten? Hastig wählte ich die Nummer ihres Festnetzanschlusses. Doch als ich im nächsten Moment den dämlichen Anrufbeantworter hörte, sackte ich innerlich noch mehr zusammen.
»Alex, ich bin’s … Du musst unbedingt zurückrufen … Meine Eltern hatten einen Unfall … Bitte melde dich bei mir, sobald du das hier hörst …«, stammelte ich und ließ das Handy wieder fallen.
Sie würde sicher bald zu Hause sein, redete ich mir ein. Doch ich war nicht überzeugend.
Gott … Mama!
Es durfte alles nicht wahr sein.
Was sollte ich ohne sie machen?
Nein, daran durfte ich gar nicht denken, so einen Mist durfte ich nicht mal eine Sekunde in meinem Kopf zulassen. Aber Gedanken fragten leider nicht um Erlaubnis.
Ich lehnte mich an die Wand und spürte, wie ich mit dem Rücken langsam daran hinunter rutschte. Als ich den Boden unter mir fühlte, schlang ich fest die Arme um meine Knie und ließ den Kopf darauf sinken.
Solange ich so da saß, wurde ich immer tiefer in ein Loch gezogen. Ständig schossen mir Bilder von einem Autowrack mit meinen verletzten Eltern darin in den Kopf. Wie sie dalagen, fast verbluteten und ich nicht bei ihnen sein konnte.
Ich verstand einfach nicht, wie das geschehen konnte, ich hatte heute Abend doch noch mit ihnen telefoniert! Mein Vater war der vorsichtigste Autofahrer, den ich kannte. Nie fuhr er zu schnell, nie! Dass ein Unfall passierte, konnte eigentlich überhaupt nicht sein!
Andauernd beging ich den Fehler, mir vorzustellen, wie meine Mutter gerade operiert wurde, wie sie in einem sterilen Saal lag und dutzende Ärzte in grüner Robe um sie herumstanden und um ihr Leben kämpften.
Umso länger ich mich nicht vom Fleck
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