KISSED
Winterdomizilvorbeikommen, bekomme ich wieder Gewissensbisse, weil ich an Harry, den Schwan, und seinen Bruder Truman denken muss. Wir kommen an Bars voller Touristen vorbei, die nichts als String-Tangas tragen, und an T-Shirt-Shops und Nudistenhotels. Ich spreche alle Rothaarigen an und werde zweimal fast zusammengeschlagen. An meinem Rucksack lasse ich den Reißverschluss offen, damit der Umhang griffbereit ist. Als wir das andere Ende der Duval Street erreichen, geht die Sonne schon fast unter.
»Wir sollten da rübergehen.« Meg zeigt auf ein Schild, auf dem MALLORY SQUARE steht. »Alle kommen dorthin, weil es der beste Ort ist, den Sonnenuntergang zu betrachten. Vielleicht findest du deinen Rotschopf da.«
Ich nicke, auch wenn ich den Verdacht habe, dass Meg nur den Sonnenuntergang sehen will. Mädchen mögen so was. Trotzdem, Meg hat recht. Es ist total voll. Die Chancen stehen gut, dass unsere Touristen aus Ohio hier sind.
Mallory. Das war der letzte Schwan.
Auf dem Platz tummeln sich Menschenmassen. Ein Mann mit Ringen in den Brustwarzen schluckt auf einer kleinen Bühne Feuer, ein anderer Mann schlägt einen Salto auf Stelzen. Straßenhändler verkaufen Halsketten mit der »Dein Name auf einem Reiskorn«-Nummer. Es sind mindestens zehn Rotschöpfe in Sicht. Ich steuere auf einen davon zu.
»Lass mich das machen.« Meg spricht das Mädchen an. »Tessa?«
Sie dreht sich um, und plötzlich schöpfe ich Hoffnung. Aber dann merke ich, dass sie mindestens dreißig ist.
»Sorry«, sagt Meg. »Ich dachte, du seist jemand anderes.«
Immer wieder wiederholt Meg diesen Vorgang, und jedes Mal ist es das falsche Mädchen. Schließlich sage ich: »Wir sollten gehen.«
»Nein.« Megs Stimme klingt gelassen, aber ihr Blick ist wie aus Stahl. »Ich habe mit dir gezeltet, ich habe es ohne Essen ausgehalten, schleimige Truthähne ausgepackt, Riesen beim Kämpfen zugeschaut, dich gerettet, als du von einem Skorpion gebissen wurdest, und mehrere Stunden zugehört, wie du von Prinzessin Perfekt geschwärmt hast – Stunden, die mir niemand zurückgeben kann. Manchmal, Johnny, muss man einfach innehalten und den Sonnenuntergang betrachten. Aber wenn du wirklich glaubst, dass diese Viertelstunde einen großen Unterschied macht, dann geh ohne mich. Hier. Nimm den Ring.« Sie reicht ihn mir. »Wenn du mich brauchst, streif ihn über. Ansonsten sehen wir uns später.«
Und dann wendet sie sich dem von der Sonne in Flammen getauchten Ozean zu, und ich weiß, dass sie sich nicht vom Fleck rühren wird.
Eine Sekunde lang überlege ich, sie hier allein zu lassen, aber ich weiß, dass sie recht hat. Es würde keinen Unterschied machen. Wir waren in dreißig Hotels. Später können wir noch andere aufsuchen, und die Familie Stephen wird hoffentlich länger als nur eine Nacht bleiben.Also sage ich: »Klar. Lass uns den Sonnenuntergang anschauen.«
Ich habe in South Beach schon viele Sonnenuntergänge gesehen, und sie sind schön. Aber der auf dem Mallory Square ist anders. Vielleicht liegt es am Breitengrad oder an der Atmosphäre oder so. Oder vielleicht daran, wie Jimmy Buffet singt, am inneren Kompass, der einem rät, sich die Zeit zu nehmen hinzuschauen. Was es auch ist, die Sonne wirkt hier röter. Sie taucht den Himmel nicht nur in Orange und Rosa, sondern auch in Violett und Gold. Meg greift nach meiner Hand, und ich halte sie fest. Die Menschenmenge um uns herum ist still geworden. Kaum etwas regt sich, außer den dreieckigen Segeln der Boote, die vor dem Blau des Wassers auf und ab tanzen. Licht wird vom Wasser reflektiert und verwandelt die Welt in ein Gemälde, nicht in eine kitschige Urlaubskarte.
»Ich erzähle dir eine Geschichte, die ich mal gehört habe«, sagt Meg. »Über Madame Pompadour. Das war diese Dame am Hof von Ludwig dem Fünfzehnten.«
»Das weiß doch jeder.« Auch wenn ich es nicht wusste.
»Jedenfalls liebte sie Mode, und eines Tages brachte ihr ein Schuhmacher die herrlichsten Seidenschuhe. Natürlich war sie begeistert. Aber am ersten Tag machte sie nur ein paar Schritte, und sie fielen auseinander. Wutentbrannt ließ sie nach dem Schuhmacher schicken. Als er die Überreste seiner schönen Schuhe sah, streckte er die Hände aus und sagte: ›Aber Madame, Sie sind doch nicht etwa darin gelaufen?‹«
»Ha! Der ist gut. Warum hast du daran gedacht?«
»Oh, ich weiß auch nicht. Wie es aussieht, wollen viele Leute Schuhe, in denen sie nicht laufen können.«
Ich weiß, dass sie nicht über
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