Kite
dafür.
»Ich …« Ich schluckte die Worte hinunter. »Es tut mir leid, dass ich Sie gestört habe, Mr Thomas.«
Ich wandte mich von ihm ab. Ich wollte nur noch hier raus.
»Warten Sie«, rief er mir nach.
Ich hielt inne.
»Versuchen Sie, so zu denken wie er«, sagte Thomas. »Er will Ihnen wehtun. Stimmt’s?«
Ich nickte.
»Was würde Ihnen mehr wehtun? Wenn er Ihr Baby tötet? Oder wenn er es am Leben hält?«
Ich hatte keine Ahnung. Beide Möglichkeiten waren so furchtbar, dass ich gar nicht daran denken wollte.
»Wenn er sie tötet, ist das ein einmaliges Ereignis. Aber wenn er sie leben lässt und Ihnen hin und wieder Fotos schickt … vielleicht Fotos von den schrecklichen Dingen, die er mit ihr anstellt … wäre das nicht schlimmer für Sie?«
Mir kamen die Tränen. »Ja.«
Thomas hob beide Hände und breitete sie aus. »Dann wird er es so machen.«
Ich wollte etwas erwidern, doch dann fielen mir zum ersten Mal Thomas’ Finger ins Auge.
Die Fingerkuppen fehlten.
Und ich wusste, was das bedeutete.
Luther
Er schaltet den Fernseher aus, in dem irgendeine blöde Spielshow läuft, steigt aus dem Bett und tappt ins Bad. Ein Blick in den Spiegel zeigt ihm, wie es um ihn bestellt ist.
Er sieht fürchterlich zugerichtet aus.
Ein geschwollenes Gesicht mit blauen Flecken, verschorften Narben und geplatzten Lippen starrt ihn an. Die Nase ist in Watte gepackt.
Die Kontaktlinsen und die schwarze Perücke hat er entsorgt. Um auf Nummer sicher zu gehen, hat er sich auf der Herrentoilette einer Tankstelle ein paar Kilometer außerhalb von Detroit den Schädel kahl rasiert.
Luther macht den Mund auf und verzieht das Gesicht, als er das schwarze und scharlachrote Zahnfleisch sieht, in dem sämtliche Zähne fehlen.
Er sieht wie ein Halloweenkürbis aus.
Aber es ist die perfekte Verkleidung. Er kann sich frei bewegen, ohne dass ihn jemand erkennt. Am liebsten würde er sich bei Phin dafür bedanken.
Vielleicht wird er das tun. Phin liegt nur ein Stockwerk höher in der Intensivstation.
Luther hat in den frühen Morgenstunden im Krankenhaus eingecheckt. Er hat seine Wunden von einem ungeschickten Arzt nähen und Röntgenaufnahmen sowie eine Computertomografie über sich ergehen lassen müssen. Nach drei Stunden Wartezeit und weiteren Tests hat man ihm eine Gehirnerschütterung bescheinigt.
Die hat er Jack zu verdanken. Er plant, ihr ebenfalls einen Besuch abzustatten.
Zuvor hat er sich von dem hilfsbereiten Personal einen Rollstuhl geliehen und die Zimmer gefunden, in denen Jack, Herb, Harry, Phin und Andrew liegen. Vor jedem hat ein bewaffneter Polizist Wache gehalten. Luther hat spät in der Nacht herumtelefoniert, um herauszufinden, in welches von den vielen Krankenhäusern in Detroit man sie gebracht hat. Nach dem vierten Anruf wusste er es.
Er macht sich keine Sorgen, dass ihn jemand erkennt – so, wie er momentan aussieht, würde das nicht mal seine tote Mutter schaffen. Und das Beste an einer einprägsamen Erscheinung – Cowboystiefel, schwarze Jeans, lange Haare – ist, dass die Leute sich daran mehr erinnern als an die Gesichtszüge.
Da die Polizei im gesamten Bundesstaat nach ihm fahndet, denkt er sich, dass er direkt vor ihrer Nase am sichersten ist.
Neben den vier Polizisten, die vor den Zimmern Wache schieben, befinden sich unten noch zwei. Außerdem gehen die Bullen und das FBI ständig ein und aus. Bei einem seiner Rundgänge hat Luther mitgehört, wie einer von Jacks Ärzten mit ein paar Leuten aus dem Büro des Sheriffs gesprochen und ihnen klargemacht hat, dass Jack frühestens in zwei Tagen befragt werden könne.
Der Arzt hat sich geirrt. Jack wird
nie
irgendwelche Fragen beantworten können.
»Leb wohl, Luther«, sagt er zu seinem Spiegelbild. »Es hat Spaß gemacht, dich zu spielen.«
Luther setzt sich in seinen Rollstuhl, legt sich eine Decke über den Schoß und bricht zu einem neuen Streifzug durch die Gänge auf. Es dauert nicht lange und er findet eine Abstellkammer für das Reinigungspersonal. Er sieht sich nach allen Seiten um, und als er sicher ist, dass ihn niemand beobachtet, geht er hinein und findet sofort, was er braucht.
Als Nächstes muss er einen Wäschewagen auftreiben.
Er wartet, bis ein Pfleger in einem Zimmer verschwindet, um dort die Bettbezüge zu wechseln, und bedient sich.
Schließlich bringt ihn der Fahrstuhl schnell in das Stockwerk, wo die Intensivstation liegt.
Wie er gehofft hat, hat bei den Wachen ein Schichtwechsel
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