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Kite

Kite

Titel: Kite Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blake Crouch
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Erinnerung an die Schrecken, die er durchlebt hatte.
    Als er das Ende des Flurs erreichte, legte er eine Verschnaufpause ein. Sein Atem rasselte in seiner Brust wie die Mischkugeln in einer Farbsprühdose. Er war am Ende seiner Kräfte angelangt und überlegte, ob er sich ein paar Minuten an die Wand lehnen und ausruhen sollte. Doch dann beschloss er, sich von der Erschöpfung und dem Schmerz nicht unterkriegen zu lassen, und schleppte sich weiter. Er ging um die Ecke und hinkte an vier Türen vorbei, bis er schließlich ihr Zimmer erreichte.
    Sie lag auf dem Bett wie ein verletzter Engel. Früher war sie mal hübsch gewesen, doch jetzt bestand sie nur noch aus Narben, Hauttransplantaten, Nähten und Schläuchen. Ihre letzte Operation lag gerade mal eine Woche zurück – ein Rückschlag, der sie viel wertvolle Zeit gekostet hatte.
    Er schleppte sich ins Zimmer, hielt auf den nächsten Stuhl zu und ließ sich mit einem Seufzer der Erleichterung auf ihn fallen, obwohl ihm dabei der Schmerz durch alle Nerven zuckte.
    »Hey«, keuchte er heiser. »Wie geht’s?«
    Sie sah ihn mit ihrem einen Auge an, das ihr noch verblieben war. »Super. Und dir?«
    Er hielt eine Hand an die Stelle, wo sich einst sein Ohr befunden hatte, und sagte: »Ich hör nichts.«
    Sie wiederholte mit lauterer Stimme: »Super. Und dir?«
    »Jeder Sonnenaufgang, den ich noch erleben darf, ist ein Geschenk Gottes. Steht unser Termin in zwei Tagen noch?«
    »Ja.«
    »Bist du dir sicher?«
    »Ja, das bin ich. Solange du Fettwanst nicht deine ganzen Pillen auf einmal schluckst.«
    Die Bezeichnung
Fettwanst
wäre früher berechtigt gewesen. Er war schon lange nicht mehr fett. Dazu müsste er in der Lage sein, feste Nahrung zu sich zu nehmen.
    »Zwei Tage noch«, sagte er mit einem Kopfnicken. »Dann sind wir hier weg.«
    Die beiden hatten während der letzten sechs Monate Medikamente gehortet. Bald hatten sie genug, um draußen zwei Wochen lang zu überleben, bevor sie sich neu eindecken mussten.
    Zwei Wochen würden ihnen für das, was sie vorhatten, locker reichen.
    »Hast du Angst?«, fragte sie.
    »Vor unserer Flucht? Oder davor, was dann kommt?«
    »Beides.«
    »Um Himmels willen, nein. Das ist das einzige Ziel, das mich noch am Leben hält.«
    »Mich auch.«
    Er erhob sich und wartete einen Augenblick, bis der Schmerz nachließ. Dann bewegte er sich in Richtung Tür.
    »Nur noch zwei Tage, Donaldson.«
    »Zwei Tage noch, Lucy . Dann knöpfen wir uns die Schlampe vor.«
    Er verzog sein Gesicht – oder was davon noch übrig war – zu einem Lächeln.
    Jack Daniels, wir kommen …

Lucy
30. März, ein Tag vorher
    Als es endlich an der Tür klopfte, öffnete Lucy ihr verbliebenes Auge und richtete sich angestrengt im Bett auf. Sie atmete ein paarmal flach und wartete darauf, dass das Schwindelgefühl nachließ, aber das tat es nicht. Das musste an den drei Codeinpflastern liegen, dachte sie. Eine andere Erklärung hatte sie nicht. Mit dem Zeug konnte man einen großen Hund außer Gefecht setzen, aber ihr wurde davon nur schwindlig – was eigentlich nicht so schlimm war, denn sie brauchte Schmerzlinderung mehr als Sauerstoff. Normalerweise reichten zwei Pflaster. Sie stillten die Schmerzen nicht vollständig – nichts konnte das –, machten sie aber so weit erträglich, dass sie nicht ständig daran denken musste und schlafen und manchmal sogar träumen konnte. Aber heute hatte sie drei Pflaster genommen, weil sie diesen Ort nach drei Jahren endlich verlassen würde – was bedeutete, dass sie laufen musste.
    Sie schob ihre spindeldürren Beine über die Bettkante und senkte langsam die Füße, bis ihre Sohlen den kalten Linoleumboden berührten.
    Er klopfte schon wieder, das ungeduldige Arschloch. Dabei wusste er ganz genau, dass sie nicht einfach aus dem Bett springen und zur Tür laufen konnte.
    Das war Schwerstarbeit von der härtesten Sorte.
    Die ersten beiden Schritte waren am schlimmsten. Sie hatte dabei das Gefühl, als ob jemand ihre Beine mit einem Speer durchbohrte. Beim fünften und sechsten Schritt hatte sie sichso weit unter Kontrolle, dass sie trotz der immensen Schmerzen weitergehen konnte.
    Langsam bewegte sie sich durch das dunkle Zimmer auf die Tür zu.
    Das einzige Licht im Raum drang von einer Straßenlampe durch die Fensterscheibe. Auf dem Fußboden konnte man die Schatten der Gitter sehen.
    Endlich schaffte Lucy es bis zur Tür. Sie keuchte und schnaufte stärker als nach einem Marathonlauf.
    Die Tür war nicht

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