Kite
neben Donaldson, begraben unter fünfzehn Kilo schmutziger Bettwäsche. Unter ihnen quietschten die Räder des Wäschekarrens.
Unterwegs hörte sie, wie Henry zu jemandem sagte: »Was geht ab, Mann?«
Donaldsons Gewicht drückte ausgerechnet an einer Stelle auf ihr Bein, wo sich ein Hauttransplantat befand. Der Schmerz war unbeschreiblich. Dazu kam, dass der Urin anderer Leute auf ihrer offenen Wunde brannte.
Aber sie schrie nicht. Wenn sie ihre Freiheit wiedererlangen wollte, durfte sie keinen einzigen verdammten Laut von sich geben.
Der Karren stieß gegen etwas, das sich wie eine Wand anfühlte. Die Wucht des Aufpralls schleuderte Donaldson auf sie.
Im Dunkeln fand sie seine Hand.
Ihre künstlichen Klauen hielten und drückten einander. Das machte es leichter, den Schmerz zu ertragen.
Einen Augenblick später hörte sie, wie sich die Türen eines Aufzugs öffneten.
Sie rollten in die Kabine. Als die Türen sich wieder schlossen, hatte Lucy das Gefühl, es nicht viel länger aushalten zu können. Abgesehen von den Schmerzen, die Donaldsons Gewicht und das Brennen auf ihrem Hauttransplantat verursachten, fiel es ihr zunehmend schwer, in dem engen Raum zu atmen.
Sie fuhren eine Etage tiefer und rollten dann weiter. In Lucy machte sich langsam Panik breit.
Ich krieg keine Luft, ich krieg keine Luft, ich krieg keine Luft, nehmt diese verfluchten Decken weg!
Sie stand kurz davor, zu schreien und völlig durchzudrehen. Scheiß auf den Plan und die Flucht. Sie brauchte einfach nur Sauerstoff.
Plötzlich blieb der Karren stehen.
Henry zog die Leintücher heraus. Lucy spürte, wie das Gewicht, das auf ihr lastete, weniger wurde. Dann sah sie an der Decke ein Licht.
Sie wand sich unter Donaldson hervor und stellte sich auf. Dabei atmete sie tief ein und aus.
Sie befanden sich jetzt in einem leeren Patientenzimmer. Lucy stellte fest, dass Henry schon wieder vorsichtshalber einen Schraubenzieher in den Türpfosten geklemmt hatte.
Die schwarzen Eisengitter vor dem Fenster hatte er mit einem Schweißbrenner durchgeschnitten. Das Gerät lag immer noch unter dem Fensterrahmen.
Es wäre ein Riesenspaß, diesen Schweißbrenner zu nehmen und …
»Beeilt euch«, sagte Henry. »Gehen wir.«
»Wo ist der Klettergurt?«, fragte Lucy. »Wir haben extra dafür bezahlt.«
»Hab keine Zeit gehabt, so was zu besorgen. Los, macht schon.«
Sie taumelte auf ihn zu. Er legte ihr etwas um die Brust, das wie ein Lasso aussah, und zog die Schlinge fest.
Jesses Maria, das wird verdammt wehtun.
»Hier rauf und dann runter«, sagte Henry und schlug mit der flachen Hand auf das Fensterbrett. Lucy kletterte darüber. Als sie draußen auf dem Sims stand, sagte Henry: »Ach ja, hätt ich beinahe vergessen.«
Er ging zum Wäschekarren und holte ein Stück des abgebrochenen Besenstiels hervor.
»Hör zu, du Schlampe, wenn du auch nur einen Pieps machst, lass ich sofort das Seil los und bringe mich aus der Schusslinie. Verstehst du, was ich meine?«
»Ja.«
»Mund auf.«
»Warum?«
»Los, mach schon auf.«
Lucy öffnete ihren Mund. Henry klemmte ihr den Besenstiel zwischen Ober- und Unterkiefer.
»Wenn es wehtut und du schreien willst, beiß einfach drauf. Und denk daran, wenn du doch schreist, lass ich dich fallen.«
Bis nach unten waren es nur etwa sechs Meter, aber Lucy kam es wie das Zehnfache vor. Sie war heute zum ersten Mal seit Jahren im Freien. Die Nacht war kalt und der Wind fuhr ihr unter den Rock wie der Finger eines lüsternen alten Mannes. Henry sah sie durch das offene Fenster an. Er stützte sich an der Wand ab, das Seil um die Hüften geschlungen. Es spannte sich bereits.
Sie ließ sich vom Sims herab. Als das Seil in ihre Achselhöhlen schnitt, wurde ihr klar, dass sie sich über diesen Augenblick nicht ausreichend Gedanken gemacht hatte. Sie hatte zwar vage geahnt, dass es furchtbar wehtun würde, dabei jedoch das volleAusmaß dessen verdrängt, was sie in der nächsten Minute erwartete.
Henry ließ sie langsam herab. Zentimeter um Zentimeter.
Blut lief ihr den Hals hinunter. Sie hatte so kräftig in den Besenstiel gebissen, dass sie sich dabei locker den Kiefer hätte brechen können. Sie ballte die Klauen zu Fäusten. Der Schweiß lief ihr übers Gesicht und brannte in ihrem verbliebenen Auge.
Schreien. Ich muss schreien. Ich halte es nicht mehr aus.
Bei ihrer Operation vor neun Tagen hatten die Ärzte an den Innenseiten ihrer Arme Hauttransplantationen vorgenommen. Wenn das Seil jetzt die Haut
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