Kite
Buch man gelesen hat. Beim Kindle gibt es keine Seitenzahlen, sondern nur …« Ich nickte. Jetzt, wo es mir wieder einfiel, erfasste mich Euphorie.
»Was ist, Jack?«
»Es gibt keine Seitenzahlen, aber dafür Positionsangaben.«
Ich drückte auf die Plastikhülle an der Stelle, wo sich der Menu-Button befand, und als der Reiter erschien, sah ich ganz unten in der Mitte die Position:
Position 310 von 7647
»Jack …«
»Augenblick, Herb.« Ich drückte auf die Taste, mit der man eine Seite zurückblätterte, und wiederholte das Ganze, bis ich zum Beginn von Kapitel zwei gelangte.
»Ach du Scheiße«, sagte ich.
»Stimmt was nicht?«
»Wie spät ist es jetzt?«
Er sah auf seine Uhr.
»Drei nach halb drei.«
Ich rieb mir die Stirn. »Er wird in ein bisschen mehr als zwölf Stunden wieder jemanden umbringen.«
»Woher zum Teufel willst du das wissen?«
»Die Position bezieht sich auf die Uhrzeit. Drei Uhr zehn. Bisher hat er uns den Todeszeitpunkt immer mittels der Seitenzahl angegeben. »Wenn wir zu der ursprünglichen Seite zurückspringen …« Ich blätterte zurück. »Siehst du, wie er das erste
m
mit einem Kringel markiert hat? Das hat mich stutzig gemacht. Weißt du noch, wie er in den anderen Büchern das
n
auf diese Weise hervorgehoben hat?«
Herbs Augen leuchteten auf.
Er sagte: »Damit wollte er uns sagen, dass die Morde nachmittags stattfinden würden.«
»Genau. Und das Kapitel …«
»Ist das Datum.«
»Dann begeht er den nächsten Mord am zweiten April um drei Uhr zehn morgens. Heute Nacht also.«
»Aber wo, Jack? Du wusstest, dass dieser Mord hier geschehen würde … woher eigentlich?«
»Der Name des vorangegangenen Opfers weist auf den Ort hin, an dem der nächste Mord stattfindet.«
»Hat Luther dir das gesagt?«
»Nicht wortwörtlich. Aber schau dir doch nur die bisherigen Morde an. Er hat zuerst Jessica Shedd umgebracht und dann Reginald Marquette am Shedd-Aquarium. Danach hat er Peter Roe im Marquette-Hochhaus getötet.«
»Und wo schlägt er das nächste Mal zu, Jack?«
»Roe.«
»Roe? Was soll das heißen?«
»Keine Ahnung. Vielleicht ein Park, ein Gebäude oder ein Museum. Was auch immer.«
Herb runzelte die Stirn. »Vielleicht spielt er damit aber auf etwas ganz anderes an. Zum Beispiel
Roe vs. Wade
.«
Ich ließ mir Herbs Bemerkung durch den Kopf gehen und bekam eine Gänsehaut.
Roe vs. Wade
war das bahnbrechende Urteil des amerikanischen Verfassungsgerichts, welches Frauen das Recht auf Abtreibung zugestand.
Ich musste wieder an den Tag denken, an dem ich Luther zuletzt gesehen hatte. Mit meinem gebrochenen Bein war ich ihm damals hilflos ausgeliefert. Er hätte mich locker umbringen können. Aber er hatte gewusst, dass ich schwanger war, und erst jetzt beschlossen, wieder in mein Leben zurückzukehren.
»Ich hab da so ein ungutes Gefühl, Jack. Ich glaube, er ändert die Spielregeln.«
Eigentlich war ich nicht scharf darauf, dass Herb diesen Gedanken zu Ende führte. Trotzdem fragte ich: »Was meinst du damit?«
»Roe? Deine Schwangerschaft? Die Nachnamen haben immer etwas mit dem Schauplatz zu tun, hab ich recht?«
»Ja.«
»Was, wenn er damit sagen will, dass
du
der Schauplatz bist? Dass er deine Schwangerschaft heute Nacht um drei Uhr zehn beenden wird?«
Ich ging fünf Schritte zur Seite, um den Tatort nicht zu verunreinigen. Dann kotzte ich auf meine Turnschuhe.
Luther
18. März
Vierzehn Tage vorher
Vier Tage nach dem Vorfall mit dem Bus
»Soso, ein Pfarrer?«
»Ja. In einer katholischen Kirche in Pittsburgh.«
Luther beugt sich über den Tisch und hält eine Weile den Blickkontakt aufrecht. Er schätzt sein Gegenüber auf Mitte fünfzig. Der Mann ist glatt rasiert, hat schütteres graues Haar, einen schmalen Mund und freundliche Augen.
»Reden wir offen miteinander, Pater. Sind Sie damit einverstanden?«
»Natürlich.«
»Sie sind unverheiratet.«
»Das Priesteramt und die Ehe sind in der Regel unvereinbar.«
»Sie leben im Zölibat?«
»Ja.«
»Fällt Ihnen das nicht manchmal schwer?«
»Hin und wieder gerät man schon in Versuchung, aber bisher habe ich es mit Gottes Hilfe geschafft, mich an mein Gelübde zu halten.«
»Soso.«
»Ja.«
»Das muss verdammt schwierig sein, vor allem mit diesen süßen jungen Ministranten, oder? Diese wissbegierigen jungen Knaben, die Sie anhimmeln und zu Ihnen kommen, um dasWort Gottes zu erfahren? Die wissen wollen, wie es in der großen, weiten Welt zugeht?«
»Ich würde mit denen nie etwas
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